Winzige Gefährten. Ed Yong
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Winzige Gefährten - Ed Yong страница 22
![Winzige Gefährten - Ed Yong Winzige Gefährten - Ed Yong](/cover_pre1033095.jpg)
Wie wir bereits erfahren haben, sind keimfreie Mäuse seltsame Tiere: Viele ihrer physiologischen Veränderungen könnten auch ihr Verhalten beeinflussen. Deshalb war es wichtig, dass John Cryan und Ted Dinan von der University of Cork in Irland zu ähnlichen Befunden gelangten, obwohl sie normale Mäuse mit vollständigem Mikrobiom verwendet hatten. Sie arbeiteten mit dem gleichen Stamm ängstlicher Mäuse, den auch Collins studiert hatte, und es gelang ihnen, das Verhalten der Tiere zu ändern, indem sie ihnen einen einzigen Stamm von Lactobacillus rhamnosus fütterten – ein Bakterium, das in Joghurt und anderen Milchprodukten häufig zu finden ist. Nachdem die Mäuse diesen als JB-1 bezeichneten Stamm verzehrt hatten, konnten sie ihre Angst besser überwinden: Sie verbrachten mehr Zeit in den frei liegenden Teilen eines Labyrinths oder in der Mitte einer offenen Fläche. Außerdem wurden sie widerstandsfähiger gegen negative Stimmungen: Ließ man sie in eine Flasche mit Wasser fallen, paddelten sie längere Zeit aktiv herum, statt sich ziellos treiben zu lassen.41 Mit Versuchen dieser Art überprüft man auch häufig die Wirksamkeit von Psychopharmaka, und JB-1 hatte hier einen ganz ähnlichen Effekt wie Wirkstoffe mit angstlösenden und antidepressiven Eigenschaften. »Es war, als hätten die Mäuse niedrig dosiertes Prozac oder Valium erhalten«, sagt Cryan.
Das Team wollte genauer herausfinden, wie das Bakterium wirkt, und studierte dazu das Gehirn der Mäuse. Wie die Wissenschaftler feststellten, sorgt JB-1 dafür, dass verschiedene Gehirnteile, die an Lernen, Gedächtnis und Gefühlssteuerung beteiligt sind, anders auf GABA reagieren, eine Substanz, die beruhigend wirkt und die Aktivität erregter Nervenzellen dämpft. Auch hier zeigten sich verblüffende Parallelen zu seelischen Störungen des Menschen: Probleme mit der Reaktion auf GABA werden mit Angstzuständen und Depressionen in Verbindung gebracht, und angstlösende Medikamente aus der Wirkstoffgruppe der Benzodiazepine verstärken die Wirkung von GABA. Die Arbeitsgruppe fand auch heraus, wie die Mikroorganismen das Gehirn beeinflussen. Ihr Hauptverdächtiger war der Vagusnerv, ein langer, verzweigter Nerv, der Signale zwischen dem Gehirn und Bauchorganen wie dem Darm übermittelt – womit er die Darm-Gehirn-Achse physisch verkörpert. Die Wissenschaftler durchtrennten ihn und stellten fest, dass das seelenverändernde JB-1 seinen Einfluss vollständig verlor.42
In diesen und nachfolgenden Studien wurde also wiederholt gezeigt, dass sich durch Veränderungen im Mikrobiom einer Maus auch ihr Verhalten, die chemischen Substanzen im Gehirn und ihre Anfälligkeit auf die Mausversion von Angst und Depressionen verändern. Es gibt allerdings auch viele Widersprüchlichkeiten. In manchen Studien stellte sich heraus, dass Mikroorganismen nur das Gehirn sehr junger Mäuse beeinflussen; in anderen waren auch halbwüchsige und ausgewachsene Tiere betroffen. In einigen Studien machten Bakterien die Nagetiere weniger ängstlich, in anderen wurden sie ängstlicher. Einige Untersuchungen zeigten, dass der Vagusnerv unentbehrlich ist; andere betonen, die Mikroorganismen könnten auch Neurotransmitter wie Dopamin und Serotonin produzieren, die Nachrichten von einem Neuron zum anderen transportieren.43 Die Widersprüche kommen nicht unerwartet: Wenn zwei so ungeheuer komplexe Dinge wie das Mikrobiom und das Gehirn aufeinandertreffen, wäre es naiv, eindeutige Ergebnisse zu erwarten.
Heute stellt sich die große Frage, ob irgendetwas davon für die Praxis von Bedeutung ist. Sind die fast unmerklichen Einflüsse der Mikroorganismen, die sich an Labortieren in ihrer kontrollierten Umwelt zeigen, für die wirkliche Welt von Interesse? Cryan hält die Skepsis für gerechtfertigt und glaubt, dass man ihr nur auf eine Weise begegnen kann: Man muss über die Experimente mit den Nagetieren hinausgehen. »Wir müssen Menschen studieren«, sagt er.
Vereinzelt ging man in Forschungsarbeiten der Frage nach, ob Menschen sich anders verhalten, nachdem sie Antibiotika oder Probiotika zu sich genommen haben, aber solche Untersuchungen leiden an methodischen Problemen und zweideutigen Ergebnissen. In einer zwar kleinen, aber schon vielversprechenderen Studie fand Kirsten Tillisch etwas Interessantes heraus: Frauen, die zweimal täglich mikrobenreichen Joghurt zu sich nehmen, weisen in den Teilen des Gehirns, die an der Verarbeitung von Gefühlen beteiligt sind, im Vergleich zu Frauen mit einer Ernährung aus mikrobenfreien Milchprodukten eine geringere Aktivität auf. Über die Frage, was solche Unterschiede bedeuten, kann man diskutieren, aber zumindest zeigen sie, dass Bakterien sich auch auf die Aktivität des menschlichen Gehirns auswirken können.44
Die Nagelprobe wird in der Klärung der Frage liegen, ob Bakterien den Menschen helfen können, Stress, Ängste, Depressionen und andere Störungen der seelischen Gesundheit besser zu bewältigen. Gewisse Anzeichen für Erfolg gibt es bereits. In einer kleinen klinischen Studie, die Stephen Collins gerade abgeschlossen hat, linderten probiotische Bakterien – ein eigener Stamm von Bifidobacterium, der einem Nahrungsmittelkonzern gehört – bei Menschen mit Reizdarm die Symptome der Depression.45 »Nach meiner Kenntnis wurde damit zum ersten Mal nachgewiesen, dass ein Probiotikum anormales Verhalten bei einer Patientengruppe verringern kann«, sagt er. Mittlerweile stehen auch John Cryan und Ted Dinan vor dem Abschluss ihrer Studie: Sie wollten wissen, ob probiotische Mikroorganismen – sie sprechen von Psychobiotika – den Menschen helfen können, mit Stress besser fertig zu werden. Dinan ist Psychiater und leitet eine Klinik für Patienten mit Depressionen; er ist mit seinen Hoffnungen sehr vorsichtig. »Ich muss sagen, dass ich zutiefst skeptisch war, als ich hörte, man könne einem Tier einen Mikroorganismus verabreichen und damit sein Verhalten verändern«, sagt er. Heute ist er zwar überzeugt, aber er hält es immer noch »für höchst unwahrscheinlich, dass wir eines Tages einen Probiotika-Cocktail haben werden, mit dem wir schwere Depressionen behandeln können. Gewisse Möglichkeiten bestehen aber am milderen Ende des Spektrums. Viele Menschen wollen keine Antidepressiva nehmen, und eine Therapie ist ihnen zu teuer; wenn wir ihnen ein wirksames Probiotikum geben könnten, wäre das für die Psychiatrie ein wichtiger Fortschritt.«
Schon heute zwingen solche Studien die Wissenschaftler dazu, verschiedene Verhaltensaspekte des Menschen unter dem Gesichtspunkt der Mikroorganismen zu betrachten. Wenn man viel Alkohol trinkt, wird der Darm durchlässiger, und Mikroorganismen können das Gehirn leichter beeinflussen – wäre das vielleicht eine Erklärung dafür, warum Alkoholiker häufig unter Depressionen oder Ängsten leiden? Durch unsere Ernährung verändern sich die Mikroorganismen im Darm – könnten solche Veränderungen höhere Wellen schlagen und unseren Geist beeinflussen?46 Das Mikrobiom ist im Alter weniger stabil – könnte dieser Effekt dazu beitragen, dass ältere Menschen häufiger Gehirnkrankheiten bekommen? Und können unsere Mikroorganismen vielleicht von vornherein mit darüber bestimmen, welche Lebensmittel wir gern essen? Wer ist es eigentlich, der unsere Hand in Bewegung setzt, wenn wir nach einem Hamburger oder einem Schokoriegel greifen?
Für uns ist die Wahl eines Gerichts von einer Speisekarte gleichbedeutend mit der Entscheidung