Winzige Gefährten. Ed Yong
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Das ist eine uralte Frage. Armand Marie Leroi schreibt in seiner großartigen Aristoteles-Biografie: »Ein Marinegeschwader, sagt [Aristoteles], ankerte einmal vor Rhodos und es wurde eine Menge irdenes Geschirr über Bord geworfen. In den Töpfen sammelten sich Schlamm und dann lebendige Austern. Da Austern sich nicht auf Töpfe oder überhaupt bewegen können, müssen sie aus dem Schlamm entstanden sein.«15 Diese Idee der Spontanzeugung war jahrhundertelang in Mode, aber sie ist hoffnungslos falsch. Hinter dem plötzlichen Auftauchen von Austern und Röhrenwürmern steckt eine viel banalere Ursache. Die Tiere machen wie Korallen, Seeigel, Muscheln und Krebse ein Larvenstadium durch, und als Larven treiben sie durch das offene Wasser, bis sie irgendwo hängen bleiben. Die Larven sind mikroskopisch klein, außerordentlich zahlreich (möglicherweise bis zu hundert in einem Tropfen Meerwasser) und gleichen in nichts ihrem ausgewachsenen Gegenstück. Ein junger Seeigel ähnelt mehr einem Federball als dem Nadelkissen, zu dem er später wird. Und eine Larve von H. elegans ähnelt weniger dem langen, von einer Röhre umhüllten Wurm, sondern eher einem Wanddübel mit Augen. Man mag kaum glauben, dass es sich um dasselbe Tier handelt.
Irgendwann werden die Larven sesshaft. Sie legen ihre jugendliche Wanderlust ab und bauen ihren Körper so um, dass er die Form des ortsfesten, ausgewachsenen Tieres annimmt. Dieser Prozess, die Metamorphose, ist der wichtigste Augenblick in ihrem Leben. Früher vermutete man, dass er sich nach dem Zufallsprinzip abspielt, das heißt, dass die Larven sich an beliebigen Orten niederlassen und überleben, wenn sie Glück haben und an einen guten Standort geraten. In Wirklichkeit gehen sie aber absichtsvoll vor und sind wählerisch. Um den besten Ort für die Metamorphose zu finden, richten sie sich nach Anhaltspunkten wie chemischen Spuren, Temperaturgradienten und sogar Geräuschen.
Wie Hadfield schon bald herausfand, lässt sich H. elegans von Bakterien und insbesondere von Biofilmen anlocken, den schleimigen Matten aus dicht gedrängten Bakterien, die sich auf Oberflächen unter Wasser sehr schnell bilden. Findet eine Larve einen solchen Biofilm, schwimmt sie an den Bakterien entlang und drückt ihr Gesicht dagegen. Schon nach wenigen Minuten ist sie verankert: Dazu presst sie einen Schleimfaden aus dem Schwanz und scheidet rund um ihren Körper eine durchsichtige »Socke« aus. Nachdem sie sich auf diese Weise befestigt hat, beginnt ihre Veränderung. Sie verliert die kleinen Ruderhaare, mit denen sie zuvor im Wasser vorangekommen ist. Sie wird länger. Um den Kopf wächst ein Ring aus Tentakeln, mit denen sie nach Nahrungsbrocken greifen kann. Und sie beginnt, die harte Röhre aufzubauen. Mittlerweile ist sie ausgewachsen, und fortbewegen wird sie sich nie mehr. Für diese Verwandlung sind Bakterien eine unabdingbare Voraussetzung. Eine saubere, keimfreie Glasflasche ist für H. elegans ein Nimmerland, ein Ort der ewigen Unreife.
Die Würmer sprechen nicht auf irgendwelche beliebigen Mikroorganismen an. Von den vielen Stämmen, die in den Gewässern vor Hawaii vorkommen, können nach Hadfields Befunden nur wenige die Metamorphose in Gang setzen, und nur ein einziger tut es sehr energisch. Sein Name ist ein wahrer Zungenbrecher: Pseudoalteromonas luteoviolacea. Glücklicherweise nennt Hadfield ihn einfach P-luteo. Mehr als jede andere Mikroorganismenart kann diese die Wurmlarven hervorragend in ausgewachsene Würmer verwandeln. Ohne die Bakterien würden die Würmer ihren ausgereiften Zustand niemals erreichen.16
Und sie sind nicht die Einzigen, denen es so ergeht. Auch manche Schwammlarven lassen sich auf Oberflächen hinuntersinken und verwandeln sich, wenn sie mit Bakterien zusammentreffen. Das Gleiche tun Muscheln, Rankenfußkrebse, Seescheiden und Korallen. Auch Austern stehen auf der Liste – tut mir leid, Aristoteles. Hydractinia, eine mit Tentakeln ausgestattete Verwandte der Quallen und Seeanemonen, geht in den ausgewachsenen Zustand über, wenn sie mit Bakterien in Kontakt kommt, die auf den Gehäusen von Einsiedlerkrebsen leben. In den Ozeanen wimmelt es von Tierbabys, die ihren Lebenszyklus nur im Zusammenspiel mit Bakterien vollenden können, und oft insbesondere mit P-luteo.17
Was würde geschehen, wenn es diese Mikroorganismen plötzlich nicht mehr gäbe? Würden alle genannten Tiere aussterben, weil sie nicht mehr heranreifen und sich fortpflanzen können? Würden die Korallenriffe – die reichhaltigsten Ökosysteme im Meer – sich nicht mehr bilden, wenn bakterielle Kundschafter nicht zuerst die richtigen Oberflächen finden? »Ich glaube, etwas so Großspuriges habe ich nie behauptet«, sagt Hadfield mit der typischen Vorsicht des Wissenschaftlers. Dann aber fügt er zu meiner Überraschung hinzu: »Aber man könnte es durchaus so sagen. Sicher braucht nicht jede Larve im Meer einen Reiz in Form von Bakterien, und es gibt da draußen unzählige Larven, die man noch nie untersucht hat. Aber unter den Röhrenwürmern und Korallen und Seeanemonen und Rankenfußkrebsen und Moostierchen und Schwämmen … eine ellenlange Liste – unter all diesen Gruppen gibt es Beispiele dafür, dass der Schlüssel bei Bakterien liegt.«
Auch hier könnte man fragen: Warum verlassen sich die Tiere auf Hinweise von Bakterien? Möglicherweise können sich die Larven mithilfe der Mikroorganismen auf einer Oberfläche besser festhalten, oder die Mikroorganismen stellen Moleküle bereit, die Krankheitserreger in Schach halten. Aber Hadfield glaubt, dass ihr Nutzen schlichter ist. Ein Biofilm liefert der Tierlarve wichtige Informationen. Er besagt, dass es erstens eine feste Oberfläche gibt, die zweitens schon seit einiger Zeit dort vorhanden ist, drittens nicht giftig ist und viertens genug Nährstoffe enthält, um Mikroorganismen zu versorgen. Gründe genug, sich niederzulassen. Die bessere Frage würde lauten: Warum sollte man sich nicht auf Hinweise von Bakterien verlassen? Oder noch besser: Welche andere Wahl hat man? »Als die Larven der ersten Meerestiere bereit waren, sich niederzulassen, gab es keine sauberen Oberflächen«, sagt Hadfield im Anklang an Rawls und King. »Sie waren alle von Bakterien bedeckt. Da ist es nicht verwunderlich, dass Unterschiede in diesen Bakteriengemeinschaften der ursprüngliche Anhaltspunkt für das Sesshaftwerden waren.«
Sowohl Kings Choanos als auch Hadfields Würmer sind ausgezeichnet auf die Mikroorganismen abgestimmt und werden von ihnen auf dramatische Weise verändert. Ohne Bakterien wären die geselligen Choanos für alle Zeiten Einzelgänger, und die Wurmlarven würden immer unreif bleiben. Beide sind wunderschöne Beispiele dafür, wie gründlich Mikroben den Körperbau von Tieren (oder der Vettern von Tieren) formen können. Und doch handelt es sich hier nicht um Symbiosen im klassischen Sinn. Die Würmer nehmen P-luteo nicht in ihren Körper auf, und offensichtlich interagieren sie mit dem Bakterium auch nicht mehr, wenn sie ausgewachsen sind. Es ist eine vor -übergehende Beziehung. Sie gleichen Touristen, die sich bei Passanten nach dem Weg erkundigen und dann weitergehen. Andere Tiere aber gehen mit Mikroorganismen auch dauerhafte Beziehungen ein, die von gegenseitiger Abhängigkeit geprägt sind.
Ein solches Tier ist der Plattwurm Paracatenula. Dieses winzige Geschöpf, das auf der ganzen Welt in warmen Meeressedimenten lebt, treibt die Symbiose ins Extrem. Sein Körper ist ungefähr einen Zentimeter lang und besteht zu fast 50 Prozent aus bakteriellen Symbionten. Sie sind im Trophosom verpackt, einem Körperhohlraum, der den Wurm fast zu 90 Prozent ausfüllt. Hinter dem Gehirn befinden sich praktisch nur noch Mikroben oder ihre Lebensräume. Harald Gruber-Vodicka, der diese Plattwürmer erforscht, bezeichnet die Bakterien als Motor und Batterie: Sie versorgen den Wurm mit Energie und speichern sie in Form von Fetten und Schwefelverbindungen. Diese Speicher verleihen dem Plattwurm seine leuchtend weiße Farbe. Außerdem liefern sie den Antrieb für seine ungewöhnlichste Fähigkeit: Paracatenula ist ein Meister der Regeneration.18 Schneidet man ihn in der Mitte durch, werden beide Teile wieder zu vollständig funktionsfähigen Tieren. An der hinteren Hälfte wächst sogar ein neuer Kopf mit einem Gehirn. »Wenn man sie klein hackt, kann man zehn von ihnen bekommen«, sagt Gruber-Vodicka. »Genau das tun sie wahrscheinlich in der Natur. Sie werden immer länger, dann bricht ein Ende ab, und es sind zwei.« Diese Fähigkeit ist vollständig vom Trophosom, den darin lebenden Bakterien und der von ihnen gespeicherten