Winzige Gefährten. Ed Yong
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Wie nicht anders zu erwarten, stießen Woeses Behauptungen selbst bei anderen wissenschaftlichen Bilderstürmern auf lautstarke Kritik. Die Fachzeitschrift Science bezeichnete ihn später als »den seelisch vernarbten Evolutionär der Mikrobiologie«, und tatsächlich trug er die Narben bis zu seinem Tod im Jahr 2012.34 Heute ist sein Vermächtnis nicht mehr zu leugnen. Seine Behauptung, die Archaea seien etwas anderes als Bakterien, erwies sich als richtig. Und was vielleicht noch wichtiger war: Der von ihm vertretene Ansatz, durch den Vergleich von Genen die Verwandtschaftsbeziehungen biologischer Arten aufzuklären, wurde zu einem der wichtigsten in der modernen Biologie.35 Außerdem ebneten seine Methoden anderen Wissenschaftlern wie beispielsweise seinem langjährigen Freund Norman Pace den Weg, nun wirklich die Welt der Mikroorganismen zu erkunden.
In den 1980er-Jahren analysierte Pace erstmals die rRNA von Archaea, die in extrem heißen Umgebungen leben. Besonders eingenommen war er vom Octopus Spring, einem tiefblauen Kessel im Yellowstone-Nationalpark, dessen Wasser mit einer Temperatur von 91 Grad Celsius beinahe siedete. Die Quelle war voller nicht identifizierter, hitzeliebender Mikroorganismen, die darin in so großen Schwärmen wuchsen, dass sie als rosafarbene Fasern sichtbar wurden. Pace kann sich noch gut daran erinnern, wie er etwas über die Quelle las, sofort in sein Labor lief und rief: »He, Leute, seht euch das mal an! Kilo grammmengen! Schnappen wir uns einen Eimer und fahren hin.« Darauf sagte ein Mitglied seiner Arbeitsgruppe: »Aber wir wissen doch nicht einmal, was für Organismen das sind.« Worauf Pace erwiderte: »Das macht doch nichts. Wir können sie ja sequenzieren.«
Er hätte ebenso gut »Heureka!« rufen können. Pace war klar geworden, dass er Mikroorganismen mit Woeses Methoden studieren konnte, ohne dass er sie heranzüchten musste. Er brauchte sie nicht einmal zu sehen. Es reichte, wenn er ihre DNA oder RNA unmittelbar aus der Umwelt gewann und sequenzierte. Dann würde sich zeigen, was dort lebte und wie es in den Stammbaum der Mikroorganismen passte – Biogeografie und Evolutionsbiologie in einem. »Wir sind mit unserem Eimer zum Yellowstone-Park gefahren und haben es gemacht«, sagt er. Im Wasser dieses »stillen, schönen und tödlichen Ortes« identifizierte Pace’ Arbeitsgruppe zwei Bakterienarten und ein Archaeon. Keines davon war schon einmal gezüchtet worden, und alle waren für die Wissenschaft neu. Die Befunde wurden 1984 veröffentlicht.36 Zum ersten Mal hatte damit jemand einen Organismus ausschließlich aufgrund seiner Gene entdeckt. Es sollte nicht das letzte Mal bleiben.
Im Jahr 1991 analysierten Pace und sein Student Ed DeLong verschiedene Planktonproben, die sie aus dem Pazifik gefischt hatten. Darin fanden sie eine noch kompliziertere Mikroben-Lebensgemeinschaft als im Yellowstone-Park: fünfzehn neue Bakterienarten, darunter zwei, die zu keiner bekannten Gruppe gehörten. Langsam sprossen an dem kargen Stammbaum der Bakterien neue Blätter, Zweige und manchmal ganze Äste. In den 1980er-Jahren hatten noch alle bekannten Bakterien fein säuberlich in ein Dutzend Hauptgruppen oder Stämme gepasst. Bis 1998 war deren Zahl auf ungefähr vierzig angestiegen. Als ich 2015 mit Pace sprach, sagte er mir, wir seien jetzt bei ungefähr hundert, und rund achtzig davon seien noch nie in Kulturen gezüchtet worden. Einen Monat später berichtete Jill Banfield über die Entdeckung von fünfunddreißig neuen Stämmen allein in einer einzigen grundwasserführenden Schicht in Colorado.37
Nachdem die Mikrobiologen jetzt vom Joch der Bakterienkulturen und Mikroskopie befreit waren, konnten sie eine viel umfassendere Bestandsaufnahme der Mikroorganismen auf unserem Planeten in Angriff nehmen. »Das war immer unser Ziel«, sagt Pace. »Die Ökologie der Mikroorganismen war zu einer todgeweihten Wissenschaft geworden. Die Leute gingen hinaus, drehten einen Stein um, fanden ein Bakterium und glaubten, es sei charakteristisch für alles, was es dort draußen gibt. Das war dumm. Als wir zum ersten Mal anders vorgegangen sind, haben wir die Tür zur natürlichen Welt der Mikroorganismen aufgestoßen. Ich will, dass das auf meinem Grabstein steht. Es war ein großartiges Gefühl, und das ist es bis heute geblieben.«
Man brauchte sich jetzt auch nicht mehr auf die 16S-rRNA zu beschränken. Sehr schnell entwickelten Pace, DeLong und andere neue Methoden, um alle Gene der Mikroorganismen in einem Klumpen Erde oder einem Becher Wasser zu analysieren.38 Sie gewannen die DNA aus allen Mikroorganismen von einer Stelle, zerschnitten sie in kleine Stücke und sequenzierten sie alle auf einmal. »Wir haben jedes verdammte Gen bekommen, das wir haben wollten«, sagt Pace. Schon anhand der 16S-rRNA konnte man sehen, welche Arten vorhanden waren, darüber hinaus aber konnte man jetzt auch herausfinden, welche Fähigkeiten die Arten an einem bestimmten Ort besaßen. Dazu sucht man beispielsweise nach Genen für die Vitaminsynthese, für die Verdauung von Ballaststoffen oder für Antibiotikaresistenzen.
Die neue Methodik versprach eine Revolution der Mikrobiologie; man brauchte nur noch einen einprägsamen Namen. Einen solchen schlug Jo Handelsman 1998 vor: Metagenomik, die Genomforschung an Lebensgemeinschaften.39 »Die Metagenomik ist vielleicht der wichtigste Durchbruch in der Mikrobiologie seit der Erfindung des Mikroskops«, sagte sie einmal. Endlich war man auf dem Weg, das Leben auf der Erde in seinem ganzen Umfang zu verstehen. Handelsman und andere erforschten nun Mikroorganismen aus den Böden von Alaska, den Graslandschaften in Wisconsin, den säurehaltigen Abwässern eines Bergbaubetriebs in Kalifornien, dem Wasser der Sargassosee, dem Körper von Tiefseewürmern und dem Darm von Insekten. Und natürlich wandten manche Mikrobiologen sich nach dem Vorbild Leeuwenhoeks auch sich selbst zu.
Wie Dubos und viele andere, die sich irgendwann in Bakterien verliebt hatten, so hatte auch David Relman ursprünglich vorgehabt, sie umzubringen. Zu Beginn seiner Laufbahn hatte er sich als klinischer Mediziner mit Infektionskrankheiten beschäftigt. Ende der 1980er-Jahre identifizierte er mit Pace’ neuer Methode unbekannte Mikroorganismen, die hinter rätselhaften Erkrankungen des Menschen steckten. Anfangs war er zutiefst frustriert, weil jede Gewebeprobe, die vielleicht einen neuen Krankheitserreger beherbergen konnte, von dem normalen Mikrobiom überschwemmt war. Diese Bewohner waren eine lästige Ablenkung – bis Relman erkannte, dass sie auch für sich genommen interessant waren. Warum sollte man nicht diese Mikroorganismen anstelle der pathogenen Minderheit charakterisieren?
So kam es, dass Relman eine große Tradition begründete, in der Mikrobiologen ihre eigenen Mikrobiome sequenzierten. Als Erstes bat er seinen Zahnarzt, ein wenig Belag aus seinen Zahnfleischtaschen zu kratzen und in ein keimfreies Sammelröhrchen fallen zu lassen. Er nahm die Masse mit ins Labor und entschlüsselte ihre DNA. Es hätte zu nichts führen müssen. Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass der Mund bereits der bestuntersuchte Mikroben-Lebensraum im menschlichen Körper war. Schon Leeuwenhoek hatte ihn sich angesehen. Rosebury hatte ihn untersucht. Mikrobiologen hatten fast fünfhundert Bakterienstämme aus seinen verschiedenen Nischen in Kulturen gezüchtet. Wenn irgendein Körperteil immun gegen neue Entdeckungen hätte sein können, dann der Mund. Und doch fand Relman an seinem eigenen Zahnfleisch ein Spektrum von Bakterienarten, das weitaus größer war als alles, was er aus denselben Proben heranzüchten hätte können.40 Selbst dort, in den bekanntesten Lebensräumen des menschlichen Körpers, wartete also noch eine atemberaubende Zahl unbekannter Arten auf ihre Entdeckung. Genauso erging es Relman 2005 auch mit dem Darm. Er sammelte Proben von verschiedenen Orten im Verdauungstrakt dreier Freiwilliger und identifizierte darin fast vierhundert Bakterienarten sowie ein Archaeon – und 80 Prozent davon waren für die Wissenschaft neu.41 Mit anderen Worten: Dubos hatte mit seinen Vermutungen recht gehabt. Die Mikrobiologen seiner Zeit hatten noch kaum an der Oberfläche der normalen menschlichen Bakterienflora gekratzt.
Das alles änderte sich Anfang der 2000er-Jahre: Jetzt machten Wissenschaftler überall im menschlichen Körper Sequenz-Bestandsaufnahmen. Jeff Gordon – ein Pionier, der uns in einem späteren Kapitel wieder