Winzige Gefährten. Ed Yong
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Seine Einstellung wäre fast der Tod seines Erbes gewesen. Als andere durch ihre minderwertigen Mikroskope blickten, sahen sie nichts, oder nichts als Produkte ihrer Einbildung. Das Interesse schwand. Als Carl von Linné in den 1730er-Jahren begann, alle Lebensformen zu klassifizieren, fasste er sämtliche Mikroorganismen zu der Gattung Chaos (was so viel wie »formlos«) und dem Stamm Vermes (»Würmer«) zusammen. Nachdem man die Welt der Mikroorganismen entdeckt hatte, sollten noch eineinhalb Jahrhunderte vergehen, bevor man sich daranmachte, sie ernsthaft zu erforschen.
Heute werden Mikroorganismen so häufig mit Schmutz und Krankheit in Verbindung gebracht, dass die meisten Menschen wahrscheinlich angeekelt zurückschrecken würden, wenn man ihnen zeigte, welche Vielfalt allein in ihrem Mund zu Hause ist. Leeuwenhoek hegte diese Abscheu nicht. Tausende von winzigen Dingen? In seinem Trinkwasser? In seinem Mund? Im Mund jedes Menschen? Wie aufregend! Wenn er den Verdacht hatte, dass sie Krankheiten verursachen können, brachte er es in seinen Schriften, in denen er so auffällig auf Spekulationen verzichtete, nicht zum Ausdruck. Andere Gelehrten waren weniger zurückhaltend. Der Wiener Arzt Marcus Plenciz behauptete 1762, mikroskopisch kleine Lebewesen könnten Krankheiten verursachen, weil sie sich im Körper vermehren und durch die Luft verbreiten. »Jede Krankheit hat ihren Organismus«, schrieb er weitsichtig. Leider hatte er für seine Behauptungen keine Belege, und deshalb konnte er auch andere nicht davon überzeugen, dass diese unbedeutenden Lebewesen eine Bedeutung haben. »Ich werde keine Zeit mit der Bemühung vergeuden, diese absurden Hypothesen zu widerlegen«, schrieb ein Kritiker.7
Das alles änderte sich erst Mitte des 19. Jahrhunderts durch den anmaßenden und streitlustigen französischen Chemiker Louis Pasteur.8 Er konnte kurz hintereinander nachweisen, dass Bakterien verschiedene Flüssigkeiten sauer werden lassen und dafür sorgen, dass Fleisch verwest. Und wenn sie sowohl für die Gärung als auch für die Verwesung verantwortlich sind, so behauptete Pasteur, dann können sie auch Krankheiten hervorrufen. Diese »Keimtheorie« hatten auch Plenciz und andere bereits vertreten, sie war aber nach wie vor umstritten. Man glaubte eher, Krankheiten würden durch Miasmen hervorgerufen, schlechte Luft, die von verwesender Materie ausging. Pasteur bewies 1865 etwas anderes: Er entdeckte, dass zwei Krankheiten, an denen die Seidenraupen Frankreichs litten, von Mikroben ausgelöst wurden. Er isolierte die infizierten Eier, verhinderte so, dass die Krankheiten sich ausbreiteten, und rettete die Seidenindustrie.
Zur gleichen Zeit beschäftigte sich der Arzt Robert Koch in Deutschland mit einer Milzbrandepidemie, die das Vieh dahinraffte. Andere Wissenschaftler hatten im Gewebe der betroffenen Tiere bereits ein Bakterium namens Bacillus anthracis gesehen. Diese Mikroorganismen spritzte Koch 1876 einer Maus – woraufhin sie starb. Er gewann die Bakterien aus dem toten Nagetier und injizierte sie einem weiteren – das ebenfalls starb. Hartnäckig wiederholte er den grausigen Versuch über zwanzig Generationen hinweg, und jedes Mal geschah das Gleiche. Damit hatte Koch eindeutig gezeigt, dass das Bakterium den Milzbrand verursachte. Die Keimtheorie der Krankheiten stimmte.
Nun hatte man die Mikroorganismen endgültig wiederentdeckt, und sie wurden sofort in die Rolle der Todesboten gedrängt. Sie waren Keime, Pathogene, Überbringer von Seuchen. In den zwanzig Jahren, die auf die Arbeit mit dem Milzbrand folgten, hatten Koch und viele andere entdeckt, welche Bakterien hinter Lepra, Tripper, Typhus, Tuberkulose, Cholera, Diphtherie, Tetanus und Pest stehen. Wie für Leeuwenhoek, so ebneten auch hier neue Hilfsmittel den Weg: bessere Linsen, neue Methoden, um Mikroorganismen in Reinkulturen auf Platten mit gallertartigem Agar heranzuzüchten, und neue Färbemethoden, mit denen man Bakterien unter dem Mikroskop besser ausmachen und identifizieren konnte. Vom Identifizieren ging man sofort zum Eliminieren über. Von Pasteur angeregt, begann der britische Chirurg Joseph Lister, in seiner Praxis neue Methoden zum Keimfreimachen anzuwenden: Er zwang seine Mitarbeiter, Hände, Instrumente und Operationssäle chemisch zu desinfizieren, und bewahrte damit unzählige Patienten vor verheerenden Infektionen. Andere suchten nach Wegen, um Bakterien an ihrer Tätigkeit zu hindern und so Krankheiten zu heilen, die Hygiene zu verbessern und Nahrung haltbar zu machen. Die Bakteriologie wurde zu einer angewandten Wissenschaft: Man studierte Mikroorganismen, um sie abzuwehren oder zu zerstören.
Da war es auch nicht gerade hilfreich, dass ein gewisser Charles Darwin im Jahr 1859, nur kurz vor dieser Welle neuer Entdeckungen, sein Werk Die Entstehung der Arten veröffentlicht hatte. »Durch diesen historischen Zufall entwickelte sich die Keimtheorie der Krankheiten in der blutrünstigen Phase des Darwinismus: Man betrachtete das Wechselspiel zwischen den Lebewesen als Kampf ums Überleben, in dem man Freund oder Feind sein musste, ohne dass Pardon gegeben wurde«, schrieb der Mikrobiologe René Dubos.9 »Diese Einstellung prägte von Anfang an alle späteren Versuche, von Mikroorganismen verursachte Krankheiten unter Kontrolle zu bringen. Es führte zu einer Art aggressiven Kriegsführung gegen die Mikroorganismen mit dem Ziel, sie aus dem kranken Menschen und der Gemeinschaft zu entfernen.«
Diese Einstellung herrscht bis heute. Würde ich in eine Bibliothek gehen und ein Lehrbuch der Mikrobiologie aus dem Fenster werfen, könnte ich damit leicht einem Passanten eine Gehirnerschütterung zufügen. Würde ich dagegen alle Seiten herausreißen, auf denen von nützlichen Mikroorganismen die Rede ist, könnte ich damit höchstens jemandem einen dieser gemeinen Papierschnitte antun. Berichte über Krankheit und Tod beherrschen noch heute unsere Vorstellungen von Mikrobiologie.
Während die Keimtheoretiker im Rampenlicht standen und einen tödlichen Krankheitserreger nach dem anderen identifizierten, mühten sich andere Biologen im Hintergrund mit Arbeiten ab, welche die Mikroorganismen am Ende in einem völlig anderen Licht erscheinen ließen.
Einer der Ersten, die ihre globale Bedeutung nachwiesen, war der Niederländer Martinus Beijerinck. Der zurückgezogen lebende, abweisende und unbeliebte Wissenschaftler empfand keine Liebe für Menschen mit Ausnahme einiger enger Kollegen und auch keine Liebe zur medizinischen Mikrobiologie.10 Krankheiten interessierten ihn nicht. Er wollte Mikroorganismen in ihrem natürlichen Lebensraum studieren: in Boden, Wasser, Pflanzenwurzeln. Im Jahr 1888 fand er Bakterien, die der Luft den Stickstoff entziehen und ihn in Ammo niak verwandeln, den die Pflanzen nutzen können; später isolierte er Arten, die zur Bewegung des Schwefels durch Boden und Atmosphäre beitragen. Seine Arbeiten waren in Beijerincks Heimatstadt Delft – wo Leeuwenhoek schon zwei Jahrhunderte zuvor erstmals Bakterien zu Gesicht bekommen hatte – der Auftakt zu einer Neugeburt der Mikrobiologie. Die Mitglieder seiner neu gegründeten Delfter Schule und Geistesverwandte wie der Russe Sergei Winogradski bezeichneten sich selbst als mikrobielle Ökologen. Sie fanden heraus, dass Mikroorganismen nicht nur eine Gefahr für die Menschheit sind, sondern auch unverzichtbare Bestandteile der Welt.
Die Zeitungen jener Zeit sprachen plötzlich von »guten Keimen«, die den Boden mit Nährstoffen anreichern und dazu beitragen, alkoholische Getränke und Milchprodukte herzustellen. Einem Lehrbuch von 1910 zufolge waren die »schlechten Keime«, auf die sich alle konzentrierten, »ein kleiner, spezialisierter Nebenzweig im Reich der Bakterien, der, grob gesagt, eigentlich von untergeordneter Bedeutung ist«.11 Die meisten Bakterien, so hieß es dort, seien abbauende Organismen, die der Welt die Nährstoffe aus verwesendem organischem Material zurückgeben. »Es ist nicht übertrieben, wenn man behauptet, ohne [sie] … würde alles Leben auf der Erde zwangsläufig zu Ende sein.«
Anderen Mikrobiologen wurde zur Zeit der Jahrhundertwende klar, dass viele Mikroorganismen sich die Körper der Tiere, Pflanzen und anderer sichtbarer Lebewesen teilen. Es stellte sich heraus, dass Flechten – die farbigen Flecken, die auf Wänden, Steinen, Baumrinde und Holzbalken wachsen – zusammengesetzte Lebewesen sind: Sie bestehen aus mikroskopisch kleinen Algen, die mit einem Pilz als Wirtsorganismus zusammenleben und im Austausch für Mineralstoffe und Wasser Nährstoffe liefern.12 Wie man