Winzige Gefährten. Ed Yong
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Winzige Gefährten - Ed Yong страница 16
Heute wissen wir, dass viele Tiere – von Fischen bis zu Mäusen – unter dem Einfluss bakterieller Partner heranwachsen, häufig sogar unter der Kontrolle der gleichen MAMPs, die auch das Leuchtorgan des Tintenfischs formen.3 Dank solcher Entdeckungen sehen wir heute die Entwicklung – den Prozess, durch den ein Tier sich von einer einzelnen Zelle in einen funktionsfähigen, ausgewachsenen Organismus verwandelt – in ganz neuem Licht.
Wenn man eine befruchtete Eizelle – von Menschen, von Tintenfischen, es funktioniert mit jeder – vorsichtig isoliert und unter dem Mikroskop betrachtet, sieht man irgendwann, wie sie sich in zwei Zellen teilt, dann in vier, dann in acht. Die Zellkugel wird größer. Sie faltet sich, beult sich aus und verformt sich. Die Zellen tauschen molekulare Signale aus und teilen sich damit gegenseitig mit, welche Gewebe und Organe sie hervorbringen sollen. Die ersten Körperteile bilden sich. Ein Embryo wächst heran und wird immer weiter heranwachsen, solange er ausreichend mit Nährstoffen versorgt ist. Die ganze Abfolge scheint selbstgenügsam zu sein und voranzuschreiten wie ein ungeheuer kompliziertes Computerprogramm, das von allein läuft. Von den Tintenfischen und anderen Tieren wissen wir aber, dass zur Entwicklung noch mehr gehört. Sie läuft nach Anweisungen in den Genen eines Tieres ab, aber auch nach denen in Genen seiner Mikroorganismen. Sie ist das Ergebnis fortdauernder Verhandlungen – einer Unterhaltung zwischen mehreren Arten, von denen nur eine die eigentliche Entwicklung vollzieht. Dabei entfaltet sich ein ganzes Ökosystem.
Ob ein Tier irgendwelche Mikroorganismen braucht, um sich ordnungsgemäß zu entwickeln, kann man am einfachsten überprüfen, indem man sie ihm vorenthält. Manche Arten sterben dann einfach: Die Mücke Aedes aegypti, die das Denguefieber überträgt, schafft es bis zum Larvenstadium, aber nicht weiter.4 Andere vertragen die Keimfreiheit besser. Euprymna scolopes leuchtet einfach nicht mehr; das wäre in McFall-Ngais Labor vielleicht ohne Bedeutung, aber in freier Wildbahn würde das Tier ohne Tarnung zu einer leichten Beute. Wissenschaftler haben auch keimfreie Formen nahezu aller anderen beliebten Labortiere hergestellt, darunter von Zebrafischen, Fliegen und Mäusen. Auch diese Tiere überleben, sind allerdings verändert. »Das keimfreie Tier ist im Großen und Ganzen eine elende Kreatur, und an nahezu jedem Punkt seiner Entwicklung erweckt es den Eindruck, es bedürfe eines künstlichen Substituts für die Keime, die ihm fehlen«, schrieb Theodor Rosebury. »Es ist so, wie ein Kind wäre, wenn wir es, vollständig geschützt vor den Schlägen der Welt, unter Glas halten könnten.«5
Am deutlichsten zeigen sich die seltsamen biologischen Eigenschaften keimfreier Tiere im Darm. Ein gut funktionierender Darm braucht eine große Oberfläche, mit der er Nährstoffe aufnehmen kann; deshalb sind seine Wände dicht mit langen, fingerförmigen Ausstülpungen besetzt, den Zotten. Die Zellen an deren Oberfläche müssen sich ständig regenerieren, denn sie werden durch die vor -übergleitende Nahrung abgeschabt. Außerdem braucht der Darm unter der Oberfläche ein dichtes Netz von Blutgefäßen, die Nährstoffe hin- und hertransportieren. Und er muss abgedichtet sein – seine Zellen müssen eng aneinanderhaften, damit fremde Moleküle (und Mikroorganismen) nicht von seinem Innenraum in die Blutgefäße sickern können. All diese lebenswichtigen Eigenschaften sind beeinträchtigt, wenn die Mikroben fehlen. Wenn Zebrafische oder Mäuse ohne Bakterien aufwachsen, entwickelt sich ihr Darm nicht vollständig, die Zotten sind kürzer, die Wände sind durchlässiger, die Blutgefäße sehen nicht wie ein dichtes städtisches Straßennetz aus, sondern wie vereinzelte Landstraßen, und ihr Regenerationszyklus ist einen Gang heruntergeschaltet. Viele dieser Mängel lassen sich einfach dadurch ausgleichen, dass man die Tiere mit einer normalen Mikroorganismenausstattung oder auch nur mit isolierten Molekülen von Mikroorganismen versorgt.6
Die Bakterien selbst geben dem Darm nicht physisch eine neue Form. Sie wirken vielmehr auf dem Weg über den Wirtsorganismus. Sie sind nicht die Arbeiter, sondern das Management. Dies zeigte Lora Hooper, indem sie keimfreien Mäusen per Infusion ein verbreitetes Darmbakterium namens Bacteroides thetaiotaomicron verabreichte – von seinen Freunden schlicht B-theta genannt.7 Wie sie herausfand, aktivieren die Mikroorganismen ein breites Spektrum verschiedener Mausgene, die an der Aufnahme von Nährstoffen, dem Aufbau einer undurchlässigen Barriere, dem Abbau von Giftstoffen, der Bildung neuer Blutgefäße und der Schaffung reifer Zellen mitwirken. Mit anderen Worten: Der Mikroorganismus teilt den Mäusen mit, wie sie ihre eigenen Gene einsetzen müssen, damit ein gesunder Darm entsteht.8 Der Entwicklungsbiologe Scott Gilbert bezeichnet dieses Prinzip als Co-Entwicklung. Weiter kann man sich von dem immer noch in Umlauf befindlichen Gedanken, Mikroorganismen seien nichts als eine Bedrohung, kaum entfernen. In Wirklichkeit helfen sie uns, zu dem zu werden, was wir sind.9
Skeptiker könnten nun einwenden, dass Mäuse, Zebrafische und Tintenfische die Mikroben für ihre Entwicklung nicht unbedingt brauchen: Eine keimfreie Maus sieht immer noch aus wie eine Maus, geht wie eine Maus und quiekt wie eine Maus. Es ist nicht so, dass man die Bakterien weglässt und plötzlich ein vollkommen anderes Tier vor sich hat. Aber keimfreie Tiere leben in einer anspruchslosen Umwelt: in klimakontrollierten Blasen mit ausreichend Nahrung und Wasser, ohne natürliche Feinde und ohne jedwede Infektionen. In der grausamen freien Wildbahn würden sie kaum überdauern. Sie könnten existieren, vermutlich jedoch nicht lange. Sie können sich allein entwickeln, aber besser ergeht es ihnen mit ihren Partnern, den Mikroorganismen.
Warum? Warum haben Tiere manche Teile ihrer Entwicklung so effizient auf andere Arten übertragen? Warum machen sie nicht alles selbst? »Nach meiner Überzeugung ist das unvermeidlich«, sagt John Rawls, der mit keimfreien Mäusen und Tintenfischen gearbeitet hat. »Mikroben sind für Tiere ein notwendiger Lebensbestandteil. Man kann sie nicht loswerden.« Denken wir noch einmal daran, dass die Tiere in einer Welt entstanden sind, in der es bereits seit Jahrmilliarden von Mikroorganismen wimmelte. Sie waren die Herrscher über den Planeten, lange bevor wir auf der Bildfläche erschienen. Und als wir schließlich da waren, entwickelten sich bei uns natürlich Wege, auf denen wir mit den Mikroben um uns herum in Wechselwirkung treten konnten. Alles andere wäre töricht, so als würden wir uns mit verbundenen Augen, Ohrstöpseln und Maulkorb in eine fremde Stadt begeben. Außerdem waren die Mikroorganismen nicht nur unvermeidlich, sondern nützlich. Sie fütterten die ersten Tiere. Ihre Gegenwart lieferte wertvolle Hinweise auf nährstoffreiche Regionen, auf Temperaturen, die dem Leben förderlich waren, oder auf flache Oberflächen, auf denen man sich niederlassen konnte. Indem die ersten Tiere solche Hinweise aufnahmen, verschafften sie sich wertvolle Informationen über ihre Umwelt. Und wie wir noch genauer erfahren werden, gibt es bis heute eine Fülle solcher uralter Wechselbeziehungen.
Nicole King ist weit weg von zu Hause. Normalerweise leitet sie ein Labor an der University of California in Berkeley, aber derzeit ist sie in London auf Urlaub. Sie will mit ihrem achtjährigen Sohn Nate eine Aufführung des Musicals Billy Elliot besuchen, allerdings nur unter der Bedingung, dass er eine halbe Stunde lang still neben uns auf der Parkbank sitzt, während wir über eine wenig bekannte Gruppe von Lebewesen sprechen, die Choanoflagellaten, auch Kragengeißeltierchen genannt. King ist eine der wenigen Wissenschaftlerinnen, die sich eingehend mit diesen Tierchen beschäftigen, und da sie voller Zuneigung von ihren »Choanos« spricht, werde ich sie auch so nennen.
Man findet sie in Gewässern auf der ganzen Welt, von tropischen Flüssen bis zu dem Meer unter dem Antarktiseis. Während wir uns unterhalten, meldet sich Nate, der bis dahin in aller Ruhe auf einem Block gekritzelt hat, zu Wort und zeichnet eines. Er malt ein Oval mit wellenförmigem Schwanz und einem Kragen aus steifen Filamenten – das Ganze sieht aus wie eine Samenzelle im Hemd. Der schlagende Schwanz treibt Bakterien und andere Teilchen in Richtung des Kragens, wo sie eingefangen, verschluckt und verdaut werden; Choanos sind aktive Räuber. Nates Zeichnung