Winzige Gefährten. Ed Yong
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Um diesen Gedanken zu überprüfen, fütterten die beiden Pattersons Mäuse mit B-frag.34 Das hatte verblüffende Folgen: Die Nage tiere wurden plötzlich neugieriger, ließen sich weniger leicht beunruhigen, neigten weniger zu Bewegungswiederholungen und waren kommunikativer. Zwar zögerten sie immer noch, sich anderen Mäusen zu nähern, aber in allen übrigen Aspekten hatte B-frag die Veränderungen, die auf die Immunantwort der Mutter zurückzuführen waren, rückgängig gemacht.
Aber wie? Und warum? Die vielleicht stichhaltigste Vermutung: Indem die Wissenschaftler bei den schwangeren Müttern eine Virusinfektion nachahmten, hatten sie eine Immunantwort ausgelöst, die den Nachkommen einen übermäßig durchlässigen und mit einer ungewöhnlichen Kombination von Mikroorganismen besiedelten Darm beschert hatte. Die Mikroben produzierten Substanzen, die ins Blut gelangten und ins Gehirn wanderten, wo sie untypische Verhaltensweisen verursachten. Der Hauptschuldige ist dabei ein Giftstoff namens 4-ethylphenylsulfat (4EPS), der bei ansonsten gesunden Tieren Angstzustände auslösen kann. Das B-frag, das die Mäuse geschluckt hatten, dichtete ihren Darm ab und blockierte den Übergang von 4EPS (und anderen Substanzen) ins Gehirn, sodass die atypischen Symptome verschwanden.
Patterson starb 2014, aber Mazmanian führt die Arbeiten seines Freundes bis heute weiter. Langfristig will er ein Bakterium entwickeln, das Menschen einnehmen können, um damit einige besonders schwere Symptome des Autismus unter Kontrolle zu bringen. Bei diesem Bakterium könnte es sich um B-frag handeln: Bei den Mäusen erfüllt es seine Funktion und es ist zufällig auch der Mikroorganismus, der im Darm von Menschen mit Autismus am stärksten Mangelware ist. Eltern autistischer Kinder, die etwas über Mazmanians Arbeit lesen, fragen regelmäßig per E-Mail an, wo sie das Bakterium bekommen können. Viele solche Eltern geben ihren Kindern bereits probiotische Produkte gegen die Darmprobleme, und manche von ihnen behaupten, sie hätten auch beim Verhalten eine Verbesserung beobachtet. Mazmanian will die Einzelfallberichte jetzt mit handfesten klinischen Befunden untermauern. Er ist optimistisch.
Andere sind skeptischer. Die naheliegendste Kritik formuliert die Wissenschaftsautorin Emily Willingham so: »Mäuse haben keinen Autismus; dieser ist ein neurobiologisches Konstrukt der Menschen, das zum Teil durch die soziale und kulturelle Wahrnehmung dessen geprägt wird, was man für normal hält.«35 Gleicht eine Maus, die immer wieder einen Kieselstein vergräbt, wirklich einem Kind, das vorund zurückschaukelt? Ist eine geringere Häufigkeit der Quiekgeräusche das Gleiche, als wenn man nicht mit anderen Menschen sprechen kann? Flüchtig besehen springen die Ähnlichkeiten ins Auge. Blickt man genauer hin, sieht man vielleicht Parallelen zu anderen Störungen; Pattersons Mäuse wurden sogar ursprünglich zu dem Zweck gezüchtet, nicht den Autismus, sondern die Schizophrenie nachzubilden. Andererseits deutet ein Experiment, das Mazma nians Arbeitsgruppe kürzlich anstellte, auf eine Verbindung zwischen den beiden Gruppen von Verhaltensweisen hin. Sie übertrugen Mikroorganismen aus dem Darm autistischer Kinder in Mäuse und stellten fest, dass sich bei den Nagetieren die gleichen Besonderheiten entwickelten, die auch Patterson beobachtet hatte, darunter Verhaltenswiederholungen und soziale Zurückgezogenheit.36 Die Vermutung liegt also nah, dass die Mikroorganismen zumindest teilweise die Ursache solcher Verhaltensweisen sind. »Niemand würde behaupten wollen, man könne den Autismus in einem Mausmodell nachvollziehen«, sagt Mazmanian nachdrücklich. »Natürlich hat die Sache ihre Grenzen, aber sie ist, wie sie ist.«
Zumindest konnten Patterson und Mazmanian nachweisen, dass Eingriffe in die Darm-Mikroorganismen einer Maus – oder auch nur in die Moleküle eines einzigen Mikroorganismenprodukts, nämlich 4EPS – zu Verhaltensänderungen führen können. Bisher haben wir erfahren, dass Mikroorganismen sich auf die Entwicklung von Darm und Knochen, Blutgefäßen und T-Zellen auswirken können. Jetzt wissen wir, dass sie auch das Gehirn beeinflussen können, jenes Organ, das uns mehr als jedes andere zu dem macht, was wir sind. Es ist ein beunruhigender Gedanke. Wir legen so großen Wert auf unseren freien Willen, dass die Aussicht, unsere Eigenständigkeit an unsichtbare Kräfte zu verlieren, tief sitzende gesellschaftliche Ängste aufwühlt. Unsere düstersten Vorstellungen sind angefüllt mit Orwell’schen Schreckensvisionen, zwielichtigen Intrigen und Super-Bösewichten, die unseren Geist kontrollieren. Und nun stellt sich heraus, dass die gehirnlosen, mikroskopisch kleinen, einzelligen Lebewesen, die in unserem Inneren zu Hause sind, schon seit eh und je unsere Fäden in der Hand halten.
Am 6. Juni 1822 wurde der zwanzigjährige Pelzhändler Alexis St. Martin auf einer Insel in den Großen Seen Nordamerikas versehentlich von einem Gewehrschuss in die Flanke getroffen. Als der einzige Arzt der Insel, ein Militärchirurg namens William Beaumont, an den Unfallort kam, blutete St. Martin schon seit einer halben Stunde. Seine Rippen waren gebrochen und die Muskeln zerfetzt. Aus der Körperseite ragte ein Stück verbrannte Lunge heraus. Der Magen hatte ein fingerdickes Loch, aus dem Nahrung herauslief. »Angesichts dieses Dilemmas hielt ich meinen Versuch, sein Leben zu retten, für vollkommen nutzlos«, schrieb Beaumont später.37
Er versuchte es dennoch und brachte St. Martin in sein Haus. Tatsächlich gelang es ihm gegen alle Wahrscheinlichkeit nach vielen Operationen und monatelanger Pflege, den Zustand des Patienten zu stabilisieren. Vollkommen geheilt wurde St. Martin allerdings nie. Sein Magen wuchs an dem Loch in der Haut fest, sodass eine dauerhafte Verbindung zur Außenwelt entstand – eine »unfallbedingte Körperöffnung«, wie Beaumont es formulierte. Da die Pelztierjagd für ihn nun nicht mehr infrage kam, schloss sich St. Martin Beaumont als Handwerker und Diener an. Für den Arzt wurde der Mann zum Versuchskaninchen. Zu jener Zeit wusste man noch so gut wie nichts dar -über, wie Verdauung funktioniert. Beaumont erkannte in St. Martins Verletzung ganz buchstäblich ein Fenster zur Erkenntnis. Er sammelte Proben der Magensäure, und manchmal schob er Lebensmittel durch das Loch, um dann in Echtzeit zuzusehen, wie sie verdaut wurden. Die Experimente setzten sich bis 1833 fort, erst danach trennten sich die Wege der beiden Männer. St. Martin kehrte nach Quebec zurück und starb dort als Bauer im Alter von achtundsiebzig Jahren. Beaumont wurde als der Vater der Verdauungsphysiologie bekannt.38
Neben vielen anderen Beobachtungen stellte Beaumont fest, dass sich St. Martins Stimmung auf den Magen auswirkte. Wenn der Mann wütend oder reizbar wurde – und man kann sich kaum vorstellen, dass er nicht verärgert war, wenn der Chirurg ihm Lebensmittel durch ein Loch in der Körperseite schob –, veränderte sich das Tempo der Verdauung. Es war das erste eindeutige Anzeichen dafür, dass das Gehirn sich auf den Darm auswirkt. Heute, fast zwei Jahrhunderte später, kommt uns dieses Prinzip nur allzu vertraut vor. Wenn sich unsere Stimmung ändert, vergeht uns der Appetit, und die Stimmung verändert sich, wenn wir Hunger haben. Psychische Probleme und Verdauungsstörungen gehen häufig Hand in Hand. Die Biologen sprechen von einer »Darm-Gehirn-Achse«, einem Austausch zwischen Darm und Gehirn, der in beide Richtungen verläuft.
Heute wissen wir, dass die Mikroorganismen des Darms in beiden Richtungen ein Teil dieser Achse sind. Seit den 1970er-Jahren wurde in – einem schmalen Rinnsal gleichenden – Studien gezeigt, dass jede Form von Stress – Hunger, Schlaflosigkeit, Trennung von der Mutter, plötzliche Gegenwart eines aggressiven Artgenossen, unangenehme Temperaturen, drangvolle Enge und sogar laute Geräusche – das Mikrobiom im Mausdarm verändern kann. Auch das Umgekehrte gilt: Das Mikrobiom kann sich auf das