Fallout. Fred Pearce

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Fallout - Fred Pearce

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Namen »Dispensarium Nr. 3« eilig eingerichtete Krankenhaus wurde zu einer dauerhaften Forschungsanstalt, aus der später das IRME hervorging, das Apsalikow heute leitet. Seit damals erfasst und dokumentiert das Institut das Schicksal der Atomtestopfer, zuerst in seiner Funktion als geheime sowjetische Forschungsstelle, seit 1991 als öffentliche Einrichtung. Selbst andere vor Ort ansässige Wissenschaftler erfuhren vor 1991 nur wenig von den gewonnenen Erkenntnissen. Danach wurde das Archiv offenbar aufgelöst – bis auf diesen einen Bericht, auf den Apsalikow jetzt gestoßen war.

      Geschrieben hatten ihn 1957 die Wissenschaftler des Moskauer Instituts für Biophysik, und er schildert die »Expedition« der Sonderkommission nach Semipalatinsk. Er ist auf Russisch verfasst und als »streng geheim« gekennzeichnet, Apsalikows Mitarbeiter haben ihn für mich übersetzt. Angesichts seiner Mischung aus Pedanterie, Vagheit und einzelnen atemberaubenden Enthüllungen bin ich mir so gut wie sicher, dass er echt ist.

      Die Forscher berichten von einer großflächigen und dauerhaften radioaktiven Kontamination der Städte und Dörfer Ostkasachstans. Mitte September 1956 betrug die Strahlendosis durch das Einatmen der Luft in und um Ust-Kamenogorsk 1,6 Mikroröntgen pro Stunde, was ungefähr 140 Millisievert pro Jahr entspricht. Das war das Hundertfache des damals »zulässigen Werts« und offenbar die Folge einer »vor kurzer Zeit erfolgten Kontamination«, so der Bericht.3

      Einen Monat später hatte die Expedition in einigen Dörfern Proben genommen. Am schlimmsten stand es um Snamenka auf dem halben Weg zwischen dem Polygon und Ust-Kamenogorsk. Es hatte wohl genau in der Bahn des Fallouts gelegen. »Nahe Snamenka fiel über mehrere Jahre wiederholt ein Niederschlag aus radioaktiven Substanzen, die Menschen und Umwelt schadeten«, hielt der Bericht fest. Dieser Fallout sei »eine Gefahr für die Gesundheit«. Die Bedrohung sei »ernster und gefährlicher als im Bezirk Ust-Kamenogorsk«. Bei ihrem Besuch des Dorfs hatten Armeeärzte drei Personen mit Schädigungen des Blutkreislaufs und des Nervensystems angetroffen und diese als Symptome einer akuten Strahlenkrankheit diagnostiziert.

      Außerdem kam die Expedition zu dem Ergebnis, dass Kara-aul, ein landwirtschaftlicher Bezirk südöstlich des Polygons, nach wie vor durch den »gefährlichen« Fallout eines drei Jahre zuvor durchgeführten Tests kontaminiert sei. Am 12. August 1953 war er genau über Karaaul hinweggezogen.4 Die Ermittler fanden im Umkreis weitere offenkundige Fälle von akuter Strahlenkrankheit, doch laut Bericht hatte das medizinische Personal Schwierigkeiten, zwischen den Symptomen der Strahlenkrankheit und der Brucellose, einer durch Kontakt mit Vieh übertragenen Erkrankung, zu unterscheiden. In jüngerer Zeit haben Forscher die Vermutung geäußert, diese »Verwechslung« sei vielmehr Teil einer skrupellosen Strategie gewesen. Wie Cynthia Werner von der texanischen A&M University erläutert, wurde das »Dispensarium Nr. 3« in »Anti-Brucellose-Dispensarium Nr. 4« umbenannt, um seinen wahren Auftrag zu verschleiern: die Auswirkungen der Strahlenexposition auf die Ortsbevölkerung zu beobachten.5

      Wer in der Hauptwindrichtung des Polygons lebte, atmete nicht nur strahlendes Material in besorgniserregendem Maß ein, sondern nahm es auch mit der Nahrung zu sich. Die Autoren des Berichts von 1957 stellten eine »beträchtliche Kontamination der Böden, der Vegetation und der Nahrung« fest. Stuhlproben der Arbeiter einer südlich des Polygons gelegenen Kolchose wiesen eine hohe Radioaktivität auf, was sich aber änderte, nachdem die Familien von außerhalb herbeigeschaffte, saubere Nahrung bekommen hatten. Die Expedition forderte ein Verbot des Konsums von lokal angebautem Getreide, »das am stärksten kontaminiert war«. Außerdem sei »davon abzuraten, Atomtests (besonders Explosionen am Boden) durchzuführen, ehe die ganze Ernte der Felder eingebracht und Getreide und Gemüse in Lagern, Schuppen, Kellern etc. eingelagert« sei. Wie die Termine der folgenden Tests beweisen, wurde diese Empfehlung nicht befolgt.6

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      Zwischen 1949 und 1962 führte die Sowjetunion im Polygon mehr als einhundert oberirdische Kernwaffentests durch. Auf nur vier dieser Tests – jeweils im August 1949, im September 1951, im August 1953 und im August 1956 – gehen insgesamt 95 Prozent der Strahlendosis zurück, der die örtliche Bevölkerung ausgesetzt war.7 Der erste – bei dem die Welt entsetzt feststellen musste, dass nicht nur Uncle Sam die Bombe besaß, sondern auch Onkel Josef – war womöglich zugleich der schlimmste. Er fand am Morgen des 29. August 1949 statt. Die Wirkung der Bombe wurde dadurch noch vergrößert, dass sie in nur 36 Metern Höhe zur Detonation gebracht wurde. Der Feuerball traf mit enormer Wucht auf den Boden und riss riesige Mengen Erdreich in die Luft, das dadurch radioaktiv kontaminiert wurde und in einer dichten Wolke über Dutzende kasachischer Dörfer hinweg in Richtung Nordosten über die Grenze und bis in den russischen Teil des Altai-Gebirges zog.

      Direkt vom Fallout betroffen war das Dorf Dolon, das rund 110 Kilometer entfernt am Ufer des Flusses Irtysch liegt. Niemand wurde evakuiert. »Wegen der offiziellen Geheimhaltung wurden die Leute nicht gewarnt, in ihren Häusern zu bleiben. Sie waren sich selbst überlassen«, erzählte Leonid Iljin, der Direktor des russischen Instituts für Biophysik, meinem Kollegen Rob Edwards mehr als vierzig Jahre später, als sich in der Sowjetunion der Schleier der Geheimhaltung hob.8 Allerdings hätte es ohnehin wenig genützt, drinnen zu bleiben, denn die Holzhäuser boten kaum Schutz vor der Strahlung. Jüngste wissenschaftliche Schätzungen anhand der alten Messungen aus Sowjetzeiten ergaben, dass die Bewohner von Dolon wohl allein durch diesen Test eine durchschnittliche Dosis von 1.300 Millisievert erhielten – genug, um eine wahre Epidemie akuter Strahlenkrankheit auszulösen, die wohl viele Todesopfer forderte. Eine Strahlenbelastung in ähnlicher Höhe erlitten die Einwohner von Sarzhal, 120 Kilometer südöstlich des Testgeländes, als ihr Ort am 12. August 1953 direkt vom Fallout getroffen wurde.9 Und die zwanzigtausend Bewohner des Landkreises Uglowskoje, kurz hinter der russischen Grenze, waren laut Iljin wohl rund 800 Millisievert ausgesetzt.10 Die Studien sind zu dem Ergebnis gekommen, dass im Lauf der Jahre rund zehntausend Menschen in der Umgebung des Polygons vermutlich Strahlendosen von über 70 Millisievert erhalten haben, und damit einem potenziellen Gesundheitsrisiko ausgesetzt waren.11

      Kaischa Atachanowa gehört zu den Leuten, die sich gut an diese Zeit erinnern, denn sie ist in Karaganda aufgewachsen, einer Stadt mit einer halben Million Einwohner, vierhundert Kilometer westlich des Polygons. Später, als Biologin, forschte sie an den Fröschen, die in den radioaktiv belasteten Tümpeln des Polygons leben, und wurde schließlich Umweltschützerin. Ich interviewte sie in London, als sie gerade mit dem angesehenen Goldman Environmental Prize für Umweltschutz ausgezeichnet worden war. »Die Leute sahen diese riesigen Pilzwolken am Himmel, wussten aber nicht, was das war«, erzählte sie mir. Nach 1956 wurden ein paar halbherzige Anstrengungen zum Schutz der Menschen unternommen: »Soldaten kamen in die Dörfer und sagten ihnen, sie sollten ins Freie gehen, sich in Gräben legen und sich mit weißen Sachen zudecken, etwa mit Laken oder Handtüchern, und nicht nach oben schauen. [An anderen Tagen] gaben sie den Leuten Rotwein, angeblich ein Gegenmittel gegen die Strahlung.«

      Es gab sogar Evakuierungen: »für ein paar Tage, bis der Staub sich gelegt hatte. Aber das Vieh und die Hühner blieben in den Dörfern. Danach wohnten die Menschen wieder in ihren radioaktiv verseuchten Häusern, zusammen mit ihren radioaktiv verseuchten Tieren.« Sie schwammen sogar in dem See, der durch einen Bombentest entstanden war, und fingen die darin lebenden Fische; dort, wo Atachanowa später an radioaktiv belasteten Amphibien forschen sollte. »Sie wussten nicht, dass es gefährlich war.«12

      Die Auswirkungen der Bombentests im Polygon auf die Gesundheit der Menschen sind im Lauf der Jahre oft übertrieben dargestellt worden. Nachdem der gerade unabhängig gewordene Staat Kasachstan 1991 das Testgelände geschlossen hatte, schwor er den Nuklearwaffen ab und erfand sich als Opfer des sowjetischen Atomwaffenprogramms neu.

      Einige Jahre lang war auf der Website seiner diplomatischen Vertretung in den USA ein Banner mit dem Schriftzug »Der nukleare Albtraum von Kasachstan« zu sehen.13 Reporter sollten dazu animiert werden, ein Gruselkabinett in Formaldehyd konservierter deformierter Föten an der Staatlichen Medizinischen

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