Gelassene Eltern – glückliche Geschwister. Laura Markham
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Sich selber beruhigen
Ich bin nie laut geworden, bis ich zwei Kinder bekam.
Elaine
Die meisten Eltern wünschen sich, sie könnten »ruhiger bleiben«. Aber niemand bleibt immer ruhig, zumindest dann nicht, wenn man mehr als ein Kind hat. Die Herausforderungen, die ein Leben mit Kindern mit sich bringt, werden uns immer aufrütteln und aus unserer Mitte reißen. Anstatt zu versuchen, »ruhig zu bleiben«, könnten Sie sich das Ziel setzen, aufmerksam zu beobachten, wann Sie beginnen, sich aufzuregen – und eine Reihe von Strategien entwickeln, wie Sie wieder innerlich ruhig werden.
Es ist ein bisschen wie wenn man ein Musikinstrument spielen lernt. Zuerst scheint es unmöglich, eine einfache Melodie zu spielen. Wenn Sie aber regelmäßig üben, können Sie nach einem Jahr eine Sonate spielen. Wie bei jeder Praxis werden Sie niemals perfekt sein, aber jedes Mal, wenn Sie sich beruhigen, wird es einfacher. Sie schaffen die Nervenverbindungen für eine bessere Selbstregulierung und vernetzen so tatsächlich Ihr Gehirn neu.
Wenn Sie genug Schlaf bekommen und Ihre Grundbedürfnisse erfüllt sind – was oftmals für viele Eltern ein Riesenproblem ist –, dann werden Sie in der Lage sein, sich wieder einzukriegen, bevor Sie in den »unteren Weg« oder »niederen Modus« abdriften, wie es der Co-Autor von Gemeinsam leben, gemeinsam wachsen, Daniel Siegel, nennt.4 Sie kennen den »unteren Weg«. Es ist der Moment, in dem Sie sich gestresst, erschöpft, verärgert fühlen. Wenn Sie darauf bestehen, dass Sie recht haben oder Ihren Kindern eine Entschuldigung abringen. Wenn Sie sich im Kampf-oder-Flucht-Modus befinden und Ihre Kinder Ihr Feind sind. Wenn Ihr Geduldsfaden so kurz ist, dass Sie sich berechtigt fühlen, Ihren eigenen kleinen Trotzanfall zu haben. Sie kennen aber auch den richtigen Weg. Auf dem befinden Sie sich dann, wenn Sie sich richtig gut fühlen, sodass Sie emotional großzügig sein können. Wenn Sie mit Geduld, Verständnis und Sinn für Humor auf die Streitereien Ihrer Kinder reagieren. Wenn es Ihnen Freude bereitet, Vater zu sein.
Der erste Schritt besteht darin, dass Sie üben zu erkennen, wann Sie sich auf den unteren Weg zubewegen. Im zweiten Schritt tun Sie nichts bis Sie sich wieder in Ihrer Mitte befinden. Dies kann Ihnen schnell gelingen – ein paar tiefe Atemzüge. Oder es dauert zwanzig Minuten, in denen Sie etwas Sport machen oder meditieren. (Klappt beides nicht, wenn Ihre Kinder da sind? Versuchen Sie es mit Musik und tanzen Sie mit Ihren Kindern, um Ihre Gefühlslage zu verändern.)
Das hört sich schwierig an, und das ist es auch. Aber Sie können mit ein paar einfachen Übungen klein anfangen. Versuchen Sie es z. B. mit der Übung »Fünf Atemzüge nehmen«, um bei sich anzukommen und zu zentrieren. Atmen Sie einfach fünf tiefe, langsame Atemzüge. Um die Wirkung zu verstärken, nehmen Sie während der Atmung wahr, was in Ihrem Körper los ist. Stellen Sie sich vor, wie Sie Licht in alle angespannten Stellen in Ihrem Körper einatmen und Spannung ausatmen. Diese täuschend einfache Übung hilft Ihnen, sich Ihren Stress bewusst zu machen, damit Sie durch ihn durch atmen und loslassen können. Studien haben ergeben, dass man sich mithilfe bewusstes Atmens, wie die gerade genannte Übung, aus einen Gefühl des Gestresst-seins in nur fünf Atemzügen in einen entspannten Zustand bringen kann. Die Wirkung dieser Atmung wird noch effektiver, je häufiger Sie sie praktizieren.5 Sie können fünf Atemzüge nehmen, während Sie ein weinendes Baby auf dem Arm halten, während Sie Ihre Kinder baden oder wenn Sie an der Ampel stehen.
Am wichtigsten ist es jedoch, dass Sie diese Übung machen können, bevor Sie dazwischen gehen, wenn sich Ihre Kinder streiten. Und das ist notwendig, denn wenn die Emotionen zwischen unseren Kindern hochkochen, befinden sie sich bereits im Zustand von »Kampf, Flucht oder Starre«. Sprich: Sie glauben, es handelt sich um einen Notfall. Für uns Eltern ist es somit ganz normal, so zu reagieren, als wäre es wirklich ein Notfall. Das Problem hierbei ist, dass niemand klar denken kann, wenn das Gehirn mit Biochemikalien überschüttet wird, die uns während eines Notfalls überschwemmen.6
Überlegen Sie, wie dies funktioniert. Ihr Sohn stößt seine kleine Schwester um. Ist das ein Notfall? Genau genommen nicht. Aber es fühlt sich sehr wahrscheinlich wie einer an. Ohne dass es Ihnen überhaupt bewusst ist, befinden Sie sich in einem Zustand von »Kampf, Flucht oder Starre« und Ihr Sohn sieht wie der Feind aus. Bevor Sie sich versehen, schreiten Sie ein mit heulenden Sirenen, um den Feind zu besiegen und Ihr Baby zu retten.
Unglücklicherweise helfen diese heulenden Sirenen nicht, sondern verschlimmern nur den Zustand der Anspannung, in dem sich beide Kinder befinden. Ihre Tochter, die sich zwar erschrocken, aber nicht wehgetan hat, beginnt zu heulen. Ihr Sohn flieht hinter die Couch, wohin Sie ihn unter Schreien und Drohen verfolgen. Es braucht zwanzig Minuten, bis die Ruhe wiederhergestellt ist.
Wiederholt sich diese Situation in unserem Haus häufig, so werden die Amygdalas unserer Kinder – der Teil des Gehirns, der uns vor Gefahren warnt – aktiver und ängstlicher. Sie sind schneller auf 180, wenn sie sich ärgern. Da sie sich leichter bedroht fühlen und aus der Fassung zu bringen sind, streiten sie mehr miteinander.
Eine wichtige Information für Sie ist, dass Kinder mit unfertigen Gehirnen geboren werden, damit das Kind die größte Chance erhält, sich an die Besonderheiten seiner Umwelt anzupassen. Ihre Gehirne formen sich sprichwörtlich in Abhängigkeit von ihren Interaktionen mit uns.7 Und je öfter wir aus der Haut fahren, desto öfter erhalten unsere Kinder die Information, dass das Leben häufig ein Notfall ist. Sie erschaffen ein Gehirn, das auf Selbstschutz ausgerichtet ist, wodurch das Kind noch aggressiver wird.
Natürlich liefert das Leben mit Kindern den Eltern genügend Gründe, um verärgert, überwältigt und wütend zu sein. Der Säugling hört nicht auf zu weinen, das kleine Kind haut den Säugling, das Vorschulkind spült den Teddy der jüngeren Schwester die Toilette hinunter und der Sechsjährige wiederholt jedes Schimpfwort, das er in der Schule hört, um seinen kleinen Bruder zum Weinen zu bringen. Besonders wenn unsere Kinder streiten, ist es für uns selbstverständlich, dass wir verärgert sind. Also stürzen wir uns in den Kampf, wir schreien, ergreifen Partei und sagen Dinge, die wir später bereuen. Wir versuchen nur, das Problem zu lösen, doch wenn wir aus einem Gefühl des Notfalls heraus handeln, verschlimmern sich die Dinge unausweichlich zum einen in der unmittelbaren Situation und zum anderen in der Beziehung unserer Kinder untereinander.
Die Eltern von Camille wuchsen in lauten Haushalten auf, und wenn sie frustriert sind, schreien sie. Wenn die dreijährige Camille aus der Reihe tanzt, schreien sie sie an. Und wenn ihr kleiner Bruder Marco ein Spielzeug von ihr nimmt oder anfängt zu quengeln, schreit Camille ihn an. Genau genommen schreit Camille Marco an, wenn sie einfach nur mürrisch oder nicht gut drauf ist. Marco beginnt nun mit seinen sechzehn Monaten, sie zurück anzuschreien.
Die Eltern von Isabel wuchsen auch in lauten Haushalten auf, doch sie haben hart daran gearbeitet, mit dem Schreien aufzuhören. Natürlich sind sie auch frustriert, gerade wenn die dreijährige Isabel ihre Gefühle auslebt. Deshalb haben sie sich ein Repertoire an Möglichkeiten zugelegt, wie sie ihre Emotionen regulieren können, wenn sie verärgert sind, um so ihre Kinder weniger anzuschreien. Wenn Isabels kleiner Bruder Milo eines ihrer Spielzeuge nimmt, versucht sie nun mit ihm Spielzeuge zu tauschen. Wenn Milo anfängt zu quengeln, ahmt sie ihre Eltern nach: »Milo, du traurig? … Ich helfe dir.« Milo bietet mit seinen sechzehn Monaten nun Spielzeuge an und Isabel kann Milo besser aufmuntern als ihre Eltern.
Kinder lernen, was sie in ihrem Leben erfahren. Wenn wir schreien, dann leben wir das Verhalten vor, das unsere Kinder nachahmen werden:
sich gegenseitig und uns anzuschreien
auf unausweichliche Konflikte und Frustrationen im Alltag mit Schreien und Vorwürfen zu reagieren anstatt mit dem Gegenüber gemeinsam eine Lösung zu finden