Perspektivenwechsel. Fokus Zukunft. Christoph Zollinger

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Perspektivenwechsel. Fokus Zukunft - Christoph Zollinger

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zu bezeichnen, wie Mary Anne Caws in «Ein Porträt – Pablo Picasso» schreibt: «Es fällt auf, dass sich die fünf Prostituierten dem Betrachter frontal zuwenden, womit das System der Perspektive, das die Malerei seit der Renaissance bestimmt, ausser Kraft gerät: Man sieht die Figuren aus unterschiedlichen Blickwinkeln.» Anlässlich einer ersten Ausstellung 1906 wurde das Bild «als umwerfende Erneuerung der Malerei und ihrer Geschichte erkannt, als revolutionierendes Zurschaustellen primitiver Kraft und unverfrorener Kühnheit».

      1933 legte Breton, ein glühender Verehrer Picassos, den Akzent auf die Revolution des Sehens, die er für Picassos Offenbarung hielt: Sie erschaffe die Welt neu, den «Neubau der Welt». Picasso seinerseits: «Es gibt nicht ein Gemälde, nicht eine Zeichnung von mir, die nicht eine Vision der Welt genau wiedergäbe.»

      An dieser Stelle komme ich auf Gebser zurück, der eine Zeichnung Picassos aus dem Jahr 1926 kommentiert: «Das blosse Schauen oder das blosse Schönfinden können aus ihrer psychischen Befangenheit und Gebundenheit heraus die Ganzheit höchstens annähern, jedoch kaum realisieren. Aber gerade die Ganzheit kommt in dieser Zeichnung zum Ausdruck. Sie kommt deshalb zum Ausdruck, weil in ihr erstmals die Zeit in die Darstellung einbezogen ist. Wenn wir diese Zeichnung betrachten, so sehen wir mit einem Blick den ganzen Menschen […] Auf dieser Zeichnung sind Raum und Körper durchsichtig geworden […] Sie ist aperspektivisch, also vierdimensional.»

      Die Perspektive im alten Sinne ist tot, schrieben übrigens auch Kritiker zu Werken von Cézanne. Mit anderen Worten: Jene grosse Errungenschaft des fixierten Standpunkts und der perspektivischen Darstellung wurde nach rund 450 Jahren erweitert.

      Eine der gegenwärtig wahrnehmbaren Folgen jenes Sehens ist zweifellos das unsägliche «Entweder-oder» heutiger politischer Protagonisten und ihrer jeweiligen unverrückbaren Standpunkte. Wir warten immer noch darauf, dass die längst überfällige Aufweichung dieser mittlerweile defizienten Form Tatsache würde und damit einer zeitgemässen Entwicklung des menschlichen Bewusstseins im 21. Jahrhundert eine Chance böte.

      «Schwarz-weiss-Malen», der sprachliche Ausdruck, der sich aus der Bilderwelt heraus emanzipiert hat und so trefflich den unglücklichen Dualismus unserer Zeit meint, auch dieses Schwarz-weiss-Sehen – einen unüberbrückbaren Meinungsunterschied behauptend – ist kulturhistorisch ein Relikt der mentalen Phase des menschlichen Bewusstseins. Zeitgemäss ausgedrückt: eigentlich längst ein No-Go.

      Wie im Buch «Mark Rothko» (2001) der Fondation Beyeler nachzulesen ist, begann der eigentliche Siegeszug Rothkos erst 1958. Vier Jahre zuvor, 1955, war in einer Wanderausstellung des Museum of Modern Art, New York, die die «Moderne Kunst aus USA» präsentierte, nur ein Werk von ihm zu sehen. 1958 waren es bereits deren fünf. 1962 machte die erste Retrospektive von Mark Rothko auch in Basel Station. Seine Bilderwelt wird da «als Raumbild charakterisiert, ein Raum in seiner baren und lautersten Erscheinung; in seiner geheimnisvollen Leere, in seiner Weite und in seiner mächtigen Stummheit. […] Rothko, der geborene Russe, geht weiter, er entzieht dem Betrachter alles Fassbare und nimmt ihm jeden Halt.» Mit der Ausstellung «America America» 1976 in Mainz war bereits ein Wendepunkt erreicht. Die beiden Juwelen der Ausstellung, «Untitled» (1953) und «Blue, Black, Black Blue» (1969), prunkten in schlichter Schönheit. Rothko war zum Klassiker geworden.

      Rothko verlieh seinen Werken keine Titel im herkömmlichen Sinne – «ohne Titel» etwa oder «Yellow, White, Blue over Yellow on Gray» als Beispiele. Seine Bilder waren inzwischen 250 000 bis 300 000 Dollar wert. 2015 wurde ein Bild Rothkos für 81,92 Millionen Dollar ersteigert …

      Rothkos Werke faszinieren mich über alles. Sein Werk widerspiegelt sein Denken, er malte Ideen, er suchte die Einheit in einer Zeit der fortlaufenden Fragmentierung der Wissenschaft und Wirtschaft. Rothkos Vorstellung eines Idealzustands, die er farblich komponierte, weisen Verwandtschaft mit Gebsers Denkprozessen auf. Rothkos Bilder sind transparent und natürlich aperspektiv, auch vierdimensional. Christopher Rothko, Marks Sohn, beschreibt das sehr einfühlsam. «Wollen wir Analogien in menschlichen Aktivitäten, die uns erleuchten sollen, müssen wir anderswo hinblicken. Es sind Poeten und Philosophen, die unserer Gemeinschaft Themen erläutern, an welchen auch der Künstler teilhat. Ihr Hauptanliegen – ähnlich wie jenes des Künstlers – ist der Ausdruck konkreter Formen ihrer persönlichen Wirklichkeit. […] Ähnlich wie in der Musik mit neuen, ungewohnten Akkorden und rhythmischem Beat ein vorerst fremdes Raumgefühl erzeugt wird, versucht der Maler unsere Wahrnehmung von Zeit und Raum zu kombinieren mit seinem individuellen Raum/Zeit-Verständnis.»

      Rothko hat viel gelesen, auch Philosophisches und Politisches. Maler, auch wenn sie schweigen, haben viel zu sagen. Doch je mehr sie zu ihren Bildern sagen, desto mehr Missverständnisse entstehen. Daher muss ein Werk wortlos sprechen, des Künstlers Ideenwelt reflektieren im Kontext zur Zeitepoche. Rothko selbst hat einmal gesagt, seine Bilder seien als erste «Glimps» in die neue, noch unbekannte Welt zu betrachten. Der Unterschied in der Rezeption durch Betrachterinnen und Betrachter ist vergleichbar mit unseren unterschiedlichen Weltauffassungen.

      In diesem Sinne ist Rothkos Malerei eine der ausgezeichnetsten des 20. Jahrhunderts: eine neue, bisher unbekannte Ganzheit von Gedanken und Visionen.

      Die offene Bildform – gewissermassen als Metapher einer offenen Gesellschaft – suggeriert das philosophische «Nichtwissen». Aus der unvoreingenommenen Betrachtung verschiedener Ansichten, Meinungen oder Konzepte entsteht das Neue, von dem anfänglich nicht bekannt ist, ob es genügen wird, und schon gar nicht, ob es richtig sein wird.

      «Nicht die Fassade der Dinge, sondern ihre geheime Struktur» (Pablo Picasso) beschäftigt mich. Dabei wird das Durchscheinende, das Dahinterliegende intuitiv erfasst und schwebt zeitlos im fliessenden Raum. Mit der Überwindung des Raums und der perspektivischen Sicht zerbricht das nur Systematische, der rational geprägte Systemzwang und es entsteht eine neue (chaotische) Dynamik. Es gibt keine gegenständliche Vorsätzlichkeit mehr. Diese Transparenz als künstlerisch interpretierte Empfindung einer dringenden Neuausrichtung in unserer Zeit ist das Medium zwischen Maler, Bild und Betrachtenden. Sie ist gleichbedeutend mit «frei und offen sein», «etwas finden».

      Bei allen Formaten entwickeln sich auf diese Weise bei mir einige Farbflächen übereinander, platziert im fliessenden Raum; dies bewirkt eine Entgrenzung im Sinne des Grenzen überwindenden Anliegens einer sich öffnenden modernen Gesellschaft. Durch das Auftragen mehrerer Bildschichten entsteht aus den ursprünglichen Anfängen graduell ein «darüber liegendes» mehrwertiges Konzept. Das luzide Verschmelzen einzelner Formen zur ganzheitlichen Erfahrung findet ihre Parallele im integralen Verständnis der Gegenwart: Aus einer Fülle temporärer Bilder oder Ideen entwickelt sich das Ganzheitliche.

      Bei den grössten Leinwänden verbindet diese Transparenz auch Zeit und Raum: Hindernisse zwischen Publikum und Werk werden ausgeräumt, das Trennende wird zum Umfassenden, «… das Bild lebt in der Verbundenheit mit dem Menschen, verändert sich in den Augen des empfindsamen Betrachters – und es stirbt durch ihn» (Mark Rothko).

      Der malerische Prozess fasziniert mich. Der Vorgang des wiederholten Übermalens nicht fixierter farblicher Gebilde führt zu immer neuen Bildern, von denen der Maler ursprünglich nicht weiss, ob sie befriedigen. Diese Arbeit findet ihre Entsprechung in der persönlichen Auffassung des Kreativen: Ob in Wirtschaft, Politik oder im Alltag: «Lösungen» entstehen erst durch Zusammenfügen unterschiedlicher Ideen zu einem ganzheitlichen Konzept. Nicht das «Abbilden» des Offensichtlichen (einer Figur oder Landschaft, eines Objekts), nicht das Darstellen einer Szene ist hier das Ziel, sondern die Transparenz zum Hintergründigen. Übrigens: Die zeichnerische und malerische Grundausbildung erfuhr ich beim begnadeten Kunstmaler und Bildhauer Raphael Doria, Zürich.

      Immer wieder werde ich gefragt, was meine Bilder darstellten. «Nichts» ist meine Antwort. Sie stellen nichts dar. Ich will ein

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