Perspektivenwechsel. Fokus Zukunft. Christoph Zollinger

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Perspektivenwechsel. Fokus Zukunft - Christoph Zollinger

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nicht zugänglich) als Gegensatz zu «rational» (vernünftig, aus der Vernunft stammend, von der Vernunft bestimmt) bestens vertraut sind, ist «arational» im Duden bis heute nicht erwähnt. Wer sich allerdings die Mühe nimmt, den Begriff zu googlen, erhält 11 700 000 Ereignisse. Somit benutzt Gebser dieses Wort, das im englisch-amerikanischen Alltag längst populär ist, um uns zu sagen: Nicht alles, was nicht rational ist, muss irrational sein. Mit arational ist gemeint: nicht kausal gerichtet, auch nicht polar entgegengesetzt, sondern akausal (ohne ursächlichen Zusammenhang), ganzheitlich wahrend.

      Dieser aperspektivischen Welt (der Zukunft) ordnet Gebser also die integrale Struktur zu im Unterschied zur mentalen Struktur (der Vergangenheit). Nun ist integral natürlich keine neue Wortschöpfung. Doch im Zusammenhang seiner Weltsicht oder Philosophie ist der Begriff vergleichbar mit dem Modell einer holistischen Welterklärung, einer Ganzheitslehre also, basierend auf der Vorstellung, dass gesellschaftliche, wirtschaftliche, physikalische, politische, geistige Systeme etc. und ihre Eigenschaften als Ganzes und nicht als Zusammensetzung ihrer Teile zu betrachten sind.

      Und schliesslich: diaphan, das Diaphane, Gebsers Methode des Durchsichtigmachens (in Ergänzung zum Messen), die Erscheinungsform des Geistigen. «Es handelt sich um ein Durchsichtigmachen des in der Welt und hinter und vor ihr Verborgenen», um ein Durchsichtigmachen unseres Ursprungs, unserer ganzen menschlichen Vergangenheit und der Gegenwart, die auch die Zukunft schon enthält, präzisiert Gebser. Ich verwende dafür die Begriffe transparent oder Transparenz.

      Nun ordnet Gebser schliesslich der aperspektivischen Zeit die Vierdimensionalität als Gegebenheit zu. In diesem Zusammenhang vielleicht überraschend, aber logisch. «Als Realität, als Weltkonstituante brach die Zeit eigentlich erst mit der Formulierung des vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuums durch Einstein, also zu Beginn unseres Jahrhunderts [20. Jahrhundert], in unser Bewusstsein ein.»

      Ein weiteres hervorstechendes Merkmal der ausgehenden perspektivischen, mentalen Epoche ist für Gebser die Zeitangst. Zeit gewinnen, keine Zeit haben – unser Alltagsvokabular.

      Zusammenfassend denkt Gebser, Raum haben wir zwar, aber keine Zeit, obwohl die Welt weiter wurde, wurde sie enger (nämlich scheuklappenmässig verengt). «Diese Situation brachte mit den Jahrhunderten, in denen sie sich allmählich herausbildete, jenes Stigma unserer Zeitepoche mit sich, das ausser den aufgezählten das verderblichste ist: die heute allgemein herrschende Intoleranz und der aus ihr resultierende Fanatismus.» Für das Bemühen um die Zeit, das Realisieren der qualitativen Werte dieser Auseinandersetzung hat Gebser das Wort Temporik kreiert.

      «Mutationen sind immer dann aufgetreten, wenn die herrschende Bewusstseinsstruktur zur Weltbewältigung nicht mehr ausreichte. So war es auch bei der letzten historisch überblickbaren Mutation, jener, die um 500 v. Chr. aus dem Mythischen ins Mentale führte.» An der Bruchstelle zu einer erneuten Mutation in unserer Gegenwart, so Gebser, werden die Merkmale der defizienten, zu überwindenden respektive integrierenden «Fehlentwicklungen» der mentalen Struktur sichtbar.

      «Das Verhaftetsein an den Nationalismus. Das nationalistische Denken ist ein Prototyp des dreidimensionalen Denkens. Der Mensch als Kind einer Nation fasst nämlich Art und Wesen der eigenen Nation als ideale Konstante auf; das aber ist statisches Konzept und damit eine dreidimensionale, perspektivische, fixierte Vorstellung.» Dies ist eine der brandaktuellen Formulierungen, die auch 60 Jahre nach Niederschrift ihre Brisanz nicht verloren haben.

      Bei jeder Mutation (nach archaischer, magischer, mythischer, mentaler und integraler Struktur unterschieden) hatte sich der Mensch nach Gebser neuen Aufgaben zuzuwenden. «Er hatte dies zu tun, weil blosses Beharren zum Verfall führt. Aber seiner Natur gemäss verharrte er zuerst einmal, um sich gewissermassen des erworbenen Besitzes und Vermögens zu erfreuen. Damit setzt die Defizienz, der Verfall ein. Wer verharrt, verfällt.»

      «Schliesslich überbietet sich die Technik darin, mit jedem neuen Jahre den Raum immer mehr durch die Meisterung der Zeit zusammenschrumpfen zu lassen, indem sie grosse Entfernungen, sei es zeitlich durch Überschallflugzeuge zusammenrückt, sei es diese Entfernungen sogar auf einen angenäherten zeitlichen Nullpunkt reduziert […].» Diese Konklusion Gebsers scheint mir geradezu visionär: Globalisierung und Gleichzeitigkeit, die beiden Hauptcharakteristika des digitalen Zeitalters zu Beginn des 21. Jahrhunderts, kein Mensch ahnte diese Umbrüche, Gebser formulierte in seinen Worten, was die weltweiten «Fortschritts-Treiber» ausmachen würden. Sozusagen sein Gedankengebäude.

      Im Kontext meines Buches interessiert auch, was Gebser zur Malerei zu sagen hat, nachdem er sich ausführlich zur Architektur geäussert hat (die Transparenz der modernen Gebäude, wo Glas inzwischen grosse Teile der früheren, trennenden Wände ersetzt hat – diese Ankündigung Gebsers um die Mitte des letzten Jahrhunderts ist ebenso stupend wie 60 Jahre später weltweite Normalität). Das Hauptaugenmerk Gebsers richtet sich nun zweifellos auf jenen Künstler, der alle überraschte und herausforderte: Pablo Picasso.

      Bei diesem Künstler «wird von Jahrzehnt zu Jahrzehnt deutlicher, dass es gar nicht mehr um die Dinge als solche, auch nicht um abstrakte oder konkrete Formen, um nachbildende, vorbildende oder urbildende Kunst geht, sondern um die Sichtbarmachung von Strukturen, die ‹hinter› den Dingen und Gedanken liegen –, die ihnen zugrunde liegen. Picasso hat diesen Tatbestand formuliert: nicht die Fassade der Dinge, sondern ihre geheime Struktur ist es, die den heutigen Maler beschäftigt.» Ich werde im Kapitel «Die geheime Struktur des Bildes» darauf zurückkommen.

      Vielleicht möchten sich Leserinnen und Leser aus diesen Bruchstücken selbst ein Ganzes formen? Ihnen sei die zeitraubende (!) Lektüre von «Ursprung und Gegenwart», Chronos Verlag, Zürich (Neuauflage 2015), empfohlen. Zeitraubend allerdings nur für jene, die … (siehe oben). Natürlich gibt es da auch noch das im Verlag Via Nova, D-Petersberg, erschienene Buch «Die Debatte läuft – Ganzheitliche Thesen für Gesellschaft, Wirtschaft und Politik – Die unerhörte Aktualität der integralen Vision Jean Gebsers» (2005) von … Christoph Zollinger.

      Nachdem Sie, liebe Leserin, lieber Leser, dieses Kapitel gelesen haben und vielleicht auch aus Ihrer Warte darin Interessantes, Neues, bisher nicht Bedachtes ausgemacht haben, gehören Sie jetzt zweifellos zu jenen, die den Namen meiner Homepage www.glaskugel-gesellschaft.ch nicht mehr falsch interpretieren. Er sollte nicht mit der Kristallkugel der Wahrsager verwechselt werden.

      VERÄNDERUNGSPROZESSE IM ZEITENWANDEL

      Bild 7, 115 x 100cm

      Stellen wir uns ein Jahr zu Beginn des 21. Jahrhunderts vor. Vielleicht 2014? Man stellt einen verrosteten Hafenkran aus Rostock an der Ostsee mitten in Zürich ans Ufer der Limmat: Das ist Kunst. «Zürich Transit Maritim» ist sogar mehr: eine temporäre Kunst-Intervention, eine Installation eben. Die Initianten sprechen von einer 2000 Jahre zurückreichenden Geschichte von Zürich als Hafenstadt. Von einem «Denkanstoss» ist die Rede. Die Rezeption in der breiten Öffentlichkeit, wie üblich in zwei Lager gespalten, findet weniger gewählte Worte, ist weniger schmeichelnd: «Scheissding, das niemand will, Zwängerei, Geldverschleuderung», nörgeln die einen. Andere: «Dieses Kunstprojekt hat jeden Zürcher, jede Zürcherin gerade mal 1.50 Franken gekostet.» Oder sie verweisen darauf, dass Kunst auch ein Seherlebnis, eine ästhetische Erfahrung zu bieten hätte.

      Szenenwechsel. Man platziert eine weisse WC-Schüssel mitten in einen nackten Raum: Das ist Kunst. Eine Installation mit symbolischem Charakter: eine Anklage gegen Verschwendung, sorglosen Umgang der

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