Perspektivenwechsel. Fokus Zukunft. Christoph Zollinger
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Was erleben wir denn heute? Das Internet steht für Gleichzeitigkeit und Überwindung des Raums. Es hat der Globalisierung jenen Schub gegeben, der uns realisieren lässt: Wir stehen mitten in einer kritischen Phase des epochalen Neubeginns, was wir an folgenden Zeichen und Erscheinungen sehen:
■ Das sich auflösende Patriarchat;
■ Die rational fixierten Denkklischees, die zerfallen;
■ Der Messbarkeitswahn (alles messen, was messbar ist, und alles messbar machen, was es gar nicht ist), der manchmal in die Irre führt;
■ Der Ausruf «Ich habe keine Zeit!», das verräterische Eingeständnis des ins Quantitative degenerierten Empfindens unserer Lebenszeit, deren qualitative Aspekte in der Hektik untergingen;
■ Die diffuse Angst, der weitverbreitete Treiber in den nationalen Rückzug, der die einfältigen Rezepte der Populisten, deren einzige Lösungen, als «sichere Verheissung» wahrnimmt.
Ich wiederhole mich, weil es mir wichtig scheint:
■ Transparenz als Zeitdominanz, der Ruf nach Transparenz, hat erst durch das Internet und BIG DATA so richtig Zähne erhalten. Transparenzforderung ist neu ein menschenrechtliches «Grundrecht».
■ Das Aufbrechen sorgfältig gepflegter «Abnormitäten» (UBS-Debakel, VW-Skandal, FIFA-Korruption, Panama Papers etc.) ist eine Folge der neuen Durchsichtigkeit.
■ Das Atomzeitalter, ein Resultat des Fortschritts der Wissenschaft und mit ihm die «friedliche» Nutzung der Atomenergie, ist ein fragwürdiges Versprechen. Die Endlagerung von Brennstäben und der Rückbau von Atomkraftwerken bleiben ungelöste Probleme.
Transparenz, Überwindung des Dualismus und entsprechend Realisierung der Ganzheit, diese wichtigen Themen unserer bewegten Epoche, ich male diese Bilder in meinen Büchern und beschreibe sie auf meinen Bildern.
DIE GEHEIME STRUKTUR DES BILDES
Bild 8, 150 x 100cm
THE ARTIST’S REALITY
Im Rahmen dieses Buches ist es gestattet, aus der Moderne nur jene zwei Maler herauszuheben, die mich persönlich vor allem beeindrucken und beeinflusst haben.
Pablo Picasso (1881 – 1973), der grossartige, vielseitige spanische Künstler, der während 75 Jahren seine Umwelt verblüffte – und oft missverstanden oder abgelehnt wurde. Vom «Einbruch der Zeit» sprach Jean Gebser (siehe oben) Mitte des 20. Jahrhunderts und stellte gleichzeitig die Frage, inwieweit sie aperspektivischen Charakter hätte. Nachdem Gebser schon bei Cézanne und Fernand Léger erste Anzeichen der «Temporik» (wie er die neue Kunstrichtung bezeichnet) nachweist, kommt er zu Braque und Pablo Picasso.
Dessen Bild «Arlésienne – 1913» hat für Gebser sozusagen Symbolcharakter: Erstmals wird die Zeit in die Darstellung einbezogen, womit sich die Ganzheit des Neuen manifestiert. Wir sehen gleichzeitig Frontal-, Seiten- und Rückenansicht. Diese Gleichzeitigkeit – «die nur in der Vorstellung realisierbare Zusammenfassung der nacheinander gesehenen Teilaspekte» – ist vierdimensionale Zeitintegration in der Malerei. «Dieser Vorgang ist bei Picasso ein- und erstmalig.»
Mark Rothko (1903 – 1970), der russische «Ideenmaler», Begründer der abstrakten Farbfeldmalerei. Auch er oft missverstanden. Zuerst vom Surrealismus beeindruckt, wechselte er mit ca. 40 Jahren seinen Malstil grundlegend. Ausgelöst durch Depressionen und/oder intensive philosophische Lektüre ist hier der Karrierebeginn des Denkers als Maler auszumachen. Erstmals gelang es einem Künstler, nur mit Farben das Verständnis zur abstrakten Kunst aufzubauen und zu entwickeln.
In den USA lebend, entstanden die ersten jener grossflächigen Bilder, die fortan keinerlei Ähnlichkeiten mit Figurativem, Illustrationen, Design oder Dekoration aufweisen. 1947 äusserte sich Rothko im Magazin Tiger’s Eye: «A painting lives by companionship, expanding and quickening in the eyes of the sensitive observer. It dies by the same token. It is therefore a risky and unfeeling act to send it out into the world.»
Rothko investierte die ganze Persönlichkeit in seine Werke und riskierte dabei, mit seinem sehr sensiblen und persönlichen Begriff der Wirklichkeit beim Publikum aufzulaufen. Sehr kompetent ist die wichtige Phase und eindrückliche Interpretation im Buch «The Artist’s Reality – Philosophies of Art» von seinem Sohn Christopher Rothko nachgezeichnet.
Diese Art der Kommunikation mit dem Publikum war anspruchsvoll und ungewohnt. In jener «Zeit der fortlaufenden Fragmentierung» malte Rothko seine private Ideenwelt und liess das Werk zu den Betrachtenden sprechen. Immer wieder betonte er die angestrebte «Einheit» oder «Ganzheit», eine philosophische Idee, die er aus dem Studium der Antike mitgenommen hatte («the order and wholeness of those people’s worldview»).
«ICH SUCHE NICHT, ICH FINDE»
Wenn Picasso für Gebser Symbolcharakter hatte, dann nicht nur deshalb, «weil er die Zeit in seine Werke einfliessen liess», sondern auch, weil er (zusammen mit Braque zwischen 1908 und 1914) den Kubismus lancierte, indem er u.a. ohne Hilfe der perspektivischen Täuschung auf der Leinwand Themen gestaltete. Zwar hat Picasso immer energisch bestritten, eine «Methode» kreiert zu haben, doch mit seinem bahnbrechenden Verständnis, «Dinge zu malen, wie ich sie denke, nicht wie ich sie sehe», machte er einen Weg frei, den er selbst so bezeichnete: «Ich suche nicht, ich finde.» Gerade in später dem Kubismus zugeordneten Gemälden zerstörte er jegliche Raumillusion, indem er Sujets zerteilte, aufklappte, gleichzeitig von vorn und von hinten zeigte und damit die ursprüngliche Form zersprengte – sie sollte nicht mehr gesehen oder empfunden, sondern gedacht werden. Niemand vor ihm hat jemals auf diese Weise gemalt.
Dabei hatte der junge Picasso früh auf sein aussergewöhnliches Talent aufmerksam gemacht. Sein Vater übergab ihm bald einmal Palette, Pinsel und Farben mit der Bemerkung: Er, der Sohn, sei der bessere Künstler. Immerhin lehrte sein Vater in Malaga, dem Geburtsort Picassos, zu jener Zeit an der Kunstgewerbeschule Zeichnen. Die Aufnahmeprüfungen an die Kunstschule La Lonja absolvierte Picasso in einem Tag, Zeichnungen des 14-Jährigen wurden bereits 1896 in Barcelona gezeigt. Wer Gelegenheit hat, seine Bilder aus der blauen und rosa Periode (1901 – 1906) zu bestaunen, wird mir Recht geben: Auf der Basis eines ausgeprägten zeichnerischen Könnens entstanden jene berührenden Bilder, die auch nach über hundert Jahren beeindrucken. Dabei war Picassos «Technik» keineswegs spektakulär, sondern vielmehr dieselbe aller später berühmten Maler: Inputs aufnehmen durch Nachahmung (berühmter Vorbilder), autonom weiterentwickeln, um schliesslich beim Überraschenden, Neuen anzukommen.
Immer wieder provozierte Picasso. Seine Kritiker warfen ihm wechselnde Stilrichtungen vor. Eine der typischen Antworten Picassos: «Bloss wegen des Vergnügens, verstanden zu werden, werde ich nicht in einem gewöhnlichen Stil arbeiten.» Nachdem er sich zwischen 1916 und 1924 immer mehr von den Kubisten abgekehrt hat, setzt er sich während eines Jahrzehnts mit dem Surrealismus auseinander.
Später wird Picasso durch Henri Matisse beeinflusst. In dessen Bildwelt erhält die Farbe durch flächig-dekorativen und ornamentalen Einsatz unter Auslassung ihrer räumlichen Gestaltungsaspekte autonomen Charakter. Matisse setzt sie vielmehr als Mittel ein, die farblichen Empfindungen, die durch den Eindruck des Motivs im Maler ausgelöst werden, wiederzugeben.
Picassos Werk «Les Demoiselles d’Avignon» (Museum of Modern Art, New York),