Essentielles Sein. A.H. Almaas
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Normalerweise definieren wir uns durch Erinnerungen: „Ich bin dann und dann geboren worden, mit diesen Eltern, unter diesem Sternzeichen und so weiter. Meine Mutter ließ mich im Stich; meine Mutter hat mich geliebt. Ich bin zur Schule gegangen, konnte sie nicht leiden und bekam trotzdem lauter Einsen. Ich habe erst mit 21 mit jemandem geschlafen, deshalb war ich frustriert. Ich wurde schwanger und hatte eine Abtreibung. Ich war verheiratet, aber das hat nicht gehalten – und so weiter.“ Stimmt’s? So definiert ihr euch. Könnt ihr euch euch selbst vorstellen, euch beschreiben, ohne solche Erinnerungen zu gebrauchen?
All die Dinge, die geschehen sind, die ganze Sammlung, ist nicht von dem getrennt, wofür ihr euch haltet. Das mentale Gefühl von Identität und das emotionale Gefühl eines Selbst sind von all dem, was ihr erlebt habt, nicht zu unterscheiden. Es ist, als wäre alles, was ihr in eurem Leben erlebt habt - alle Ereignisse, Gefühle, Emotionen, Reaktionen, gute und schlechte Erfahrungen, eure ganze Geschichte -, von dem untrennbar, wofür ihr euch jetzt haltet. Eigentlich ist es das, wodurch ihr euch gewöhnlich kennt.
Aber was hat das, wer und was ihr seid, mit eurer Geschichte zu tun? Eure persönliche Geschichte ist die eures Körpers. Wenn ihr sagt: „Ein Auto hat mich angefahren“ - wer wurde von einem Auto angefahren? Wenn ihr sagt: „Man hat mich im Stich gelassen“ – was ist für euch das, was eure Mutter im Stich gelassen hat? „Ich wurde geboren“ – was wurde geboren? Ihr bezieht all diese Ereignisse, all diese Erinnerungen auf euren Körper. Dieser Körper bewegt sich durch Raum und Zeit, und all diese Dinge sind ihm passiert. Entweder haltet ihr also den Körper für euch selbst, oder ihr nehmt das, was ihm passiert ist, und bildet ein amorphes Konstrukt, eine Art psychologische Identität, die euer gegenwärtiges Identitätsgefühl bestimmt. Und irgendwie habt ihr das Gefühl, daß sie eure Zukunft bestimmt.
Jetzt seid ihr euch vielleicht bewußt, daß ihr euch mit dieser persönlichen Geschichte und ihrem kollektiven Gefühl von Selbstsein (selfhood) identifiziert. All das hat ein Etikett, das man „Ich“ nennt. Was ist dieses Etikett? Wenn man diese persönliche Geschichte nimmt, um sich zu definieren, dann sind alle eigenen Erfahrungen eingeschlossen, auch Erfahrungen von Selbstverwirklichung, Erleuchtung und Essenz. Man nutzt auch diese Erinnerungen, um sich zu definieren. Zum Beispiel erinnert man sich vielleicht an ein Erlebnis, das man vor etwa zwei Monaten hatte, bei dem man sein wahres Selbst erfahren hat, und jetzt glaubt man, das man das ist. Diese Erfahrung wurde zu Nahrung für die eigene persönliche Geschichte. Man versucht, jetzt eine Identität zu erzeugen, indem man sich daran erinnert. Wer sagt, daß es das ist, was man jetzt ist? Seid ihr immer dasselbe? Wenn ihr eine Erinnerung nehmt, um euch zu definieren, dann spielt es keine Rolle, woran ihr euch erinnert - Gutes, Schlechtes, Grundlegendes, Oberflächliches, Wahres oder Falsches. Alles sammelt sich in eurer persönlichen Geschichte an. Sogar eine Erfahrung eures wahren Selbst kann erinnert und der Sammlung hinzugefügt werden. Aber euer wahres Selbst ist keine Anhäufung oder Sammlung.
Geheimnisvoll, nicht wahr? Jetzt sagt ihr vielleicht: „Moment mal. Wenn ich nicht der Körper bin und wenn ich nicht mein Gefühl meiner persönlichen Geschichte bin – wer bin ich dann? Ich stehe vor etwas Neuem.“ Wenn ihr sagt: „Ich stehe vor etwas Neuem,“ dann fragt ihr euch: „Soll ich davor Angst haben oder mich danach sehnen? Soll ich darauf hoffen oder sollte ich mich davor fürchten? Sollte ich darauf zugehen oder mich dagegen wehren?“ Wer seid ihr also in diesem Moment? Identifiziert ihr euch nicht mit eurer persönlichen Geschichte? Und will diese persönliche Geschichte nicht eine weitere Erfahrung haben, um mit Sicherheit zu wissen, wer sie ist?
Angenommen ich könnte euch sagen, wer ihr wirklich seid. Was würde das ändern? Wenn ich sagte: „Ja, du hast ein Selbst, und es fühlt sich so und so an und es macht das und das.“ Na und? Es ist einfach ein weiteres Stück Information, das ihr in eurem Kopf (mind) speichern und eurer persönlichen Geschichte hinzufügen könnt. Es ist nicht einmal eine Erfahrung - es ist eine Erinnerung, die nicht einmal euch selbst gehört.
Ist es möglich, nicht nur euren Körper zu betrachten und eure Identifikation mit ihm zu sehen, sondern auch eure persönliche Geschichte objektiv zu betrachten, ohne daß ihr euch mit ihr identifizieren müßt? Ist es möglich, die Totalität eurer Persönlichkeit auf einmal anzuschauen? Meistens identifiziert ihr euch mit dieser Totalität. Ihr seid mitten darin, wie in einem Medium, zum Beispiel einer Wolke, und ihr laßt euch von der Atmosphäre dieser Wolke definieren. Ist es möglich, euch dessen bewußt zu werden, daß ihr das tut? Könnt ihr eure Erfahrung in diesem Moment betrachten und sehen, wie ihr euch mit eurer persönlichen Geschichte identifiziert? Seid ihr euch bewußt, wie schwer es ist, sich von solchen Gedanken und Erinnerungen und Vorstellungen von euch selbst loszulösen?
Versucht nicht, euch loszulösen. Seid nur gewahr, daß ihr euch nicht loslöst. Wir versuchen nicht, irgendetwas zu machen, wir versuchen nur zu sehen. Wir wollen nur sehen, was wirklich da ist. Und alles, was ich tue, ist, euch anzuleiten, hierhin und hierhin und hierhin zu schauen. Das ist alles. Wie gesagt, wir forschen. Wir gehen nicht notwendigerweise von der Annahme aus, daß es eine bestimmte Antwort gibt oder daß die Antwort auch nur gefunden werden kann. Wir forschen einfach, und bisher habe ich euch nichts verraten.
Wenn ihr die Totalität auf diese Weise betrachtet, werdet ihr sehen, daß es Muster gibt, die sich nicht zu verändern scheinen. Ihr habt euch immer für dieselbe Person gehalten. Ihr habt euch vielleicht ein wenig verändert - vielleicht mögt ihr jetzt andere Dinge, vielleicht seid ihr jetzt glücklicher, aber im allgemeinen seid ihr dieselben geblieben. Ihr denkt immer noch genauso wie früher. Ihr habt immer noch ähnliche Gefühle, oder ihr reagiert auf Dinge genauso, wie ihr früher auf sie reagiert habt. Persönliche Geschichte hat eine verschwommene Art von Konsistenz und Kontinuität, die uns ein Gefühl von Identität vermittelt. Das Identitätsgefühl ist nichts als ein Etikett, ein Gefühl, das auf einer Sammlung von Erinnerungen beruht.
Es ist ein bißchen wie ein Film. Wenn ihr euch einen Film anschaut, dann scheint er etwas Kontinuierliches zu sein, aber wenn ihr ihn anhaltet, dann seht ihr, daß es hier ein Bild gibt und ein Bild hier und so weiter. Eure Erinnerungen sind eine Serie von Bildern, genau wie ein Film. Sie sind Bilder, die zusammengesetzt eine Bewegung ergeben, so daß man ein Gefühl von Kontinuität hat, das man für die Definition seiner selbst benutzt. Eure persönliche Geschichte definiert, wer ihr seid, worum es bei euch geht. Eigentlich definiert sie, wie es euch jetzt geht und was ihr tut, wenn ihr mit dieser Untersuchung aufhört.
Seht ihr, wie schwer es ist, sich davon zu lösen? Ihr könnt euch nicht erlauben zu sagen: „Vielleicht muß ich ja gar nicht durch diese Dinge definiert sein. Vielleicht muß ich gar nicht wissen, wohin ich gehe, wenn ich diesen Raum verlasse.“ Denn dann denkt ihr gleich: „Moment mal. Ich werde total aufgeschmissen sein. Ich verliere mein Gedächtnis und man wird mich ins Krankenhaus bringen und man wird mir Medikamente geben müssen, damit ich mich daran erinnere, wer ich bin. Also halte ich mich besser an meine Erinnerungen, an meine Identität. Jetzt habe ich eine Orientierung. Ich weiß, wer ich bin, und deshalb bin ich sicher.“ Aber wie kann so irgendetwas Neues geschehen? Was immer auch passiert, es ist schon von diesen Dingen vorherbestimmt.
Vielleicht seid ihr schlau und sagt: „Ich weiß, daß ich das tue, aber ich weiß es zugleich besser. Ich weiß, daß ich nicht wirklich meine persönliche Geschichte bin. Ich erfahre jetzt einen essentiellen Zustand. Er fühlt sich wunderbar an, wie eine Art Liebe. Das bin doch ich, oder?“ Wenn ihr diese Zustände für euch selbst haltet, dann gebt Acht. Seid euch bewußt, wofür ihr euch haltet. Ist dieser essentielle Zustand das, was ihr vor einer Stunde gefühlt habt? Wenn er nicht