Essentielles Sein. A.H. Almaas
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Allein schon die Tatsache, daß ein vollständiges Gewahrsein der Totalität möglich ist, weist darauf hin, daß sie euch nicht definieren muß. Allein die Tatsache, daß ihr das Ganze umfassen könnt und damit eure Kapazität immer noch nicht ausgeschöpft ist, weist daraufhin, daß ihr größer seid als all das. Der Augenblick, in dem ihr einer Sache gewahr werdet, ist der Moment, in dem ihr über sie hinausgeht. In dem Moment, wo ihr sagt „Ich bin das“, seid ihr bereits darüber hinaus.
Wenn wir unseren Etiketten glauben, wenn unsere Identität irgendein Inhalt ist, dann definieren wir uns und lassen keine Ausdehnung über diese Vorstellung von uns hinaus zu. In dem Moment, in dem ich sage: „Ich wurde zu dem und dem Zeitpunkt geboren.“, definiere ich mich mit dem Körper. Aber wenn mir klar wird, daß ich meine Geburt benutze, um den Beginn meines Lebens zu bezeichnen, kann ich erkennen, daß das „Ich“ überhaupt nicht geboren wurde. Wie kann etwas, daß dieser ganzen Totalität gewahr sein kann, geboren werden? Wie kann es sterben? Was hat es mit Zeit zu tun?
Finden wir also eine Antwort? Finden wir die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“? Oder sehen wir, daß wir jedesmal, wenn wir sagen „Das bin ich“, das eben nicht sind, weil unser Gewahrsein (awareness) es umfassen kann? Was wir finden, ist eine paradoxe, widersprüchliche Art von Antwort. Es ist weder Finden noch Nichtfinden einer Antwort.
Wir legen nur Dinge bloß, von denen ihr denkt, daß ihr sie wißt. Wenn euch das verwirrt, dann ist das gut, weil die Verwirrung sowieso schon da ist. Ihr habt sie durch den Glauben überdeckt, ihr wüßtet. In diesem Augenblick wißt ihr wahrscheinlich nicht, wer ihr seid.
Seit langem sagt ihr aus Gewohnheit: „Ich sitze oder stehe auf, ich spreche, ich bin traurig.“ Aber sind solche Aussagen korrekt? Wenn ihr diese Annahmen in Frage stellt, dann fragt ihr euch vielleicht, warum ihr diese Dinge immer wieder sagt. Warum sage ich das immer wieder? Wer sagt das? Was ist dieses „Ich“? Ihr seht, daß solche Aussagen nicht korrekt sein können. Betrachtet ihr die Dinge so, dann seht ihr, daß ihr schon seit Jahren verwirrt gewesen seid.
Ihr fragt euch vielleicht: „Was habe ich nur die ganze Zeit gemacht?“ Ihr habt vielleicht das Gefühl, daß ihr eure Zeit verschwendet habt. Aber für wen denn haltet ihr euch, der eure Zeit vergeudet hat? In dem Moment, in dem ihr sagt, daß „ich“ etwas getan habe, dann macht ihr Annahmen über ein „Ich“. Es ist nicht nötig, über das nachzudenken, was ihr getan und nicht getan habt, da das, wovon ihr denkt, daß „ihr“ es getan habt, davon abhängt, wofür ihr euch gehalten habt. Die Vergangenheit ist vollkommen irrelevant. Vollkommen.
Das Wissen der Antwort auf die Frage „Wer bin ich?“ stellt sich nur im Augenblick ein. Die Antwort hat nichts mit der Vergangenheit zu tun. Wenn die Vergangenheit die Antwort im gegenwärtigen Augenblick bestimmt, dann ist es offensichtlich keine korrekte Antwort, da die Vergangenheit nicht mehr existiert. Um die Frage wirklich beantworten zu können, müssen wir sehen, daß wir die Antwort nicht wissen, und auch, daß wir nicht wissen, wie wir sie finden können. Ist es möglich, euch selbst einzugestehen, daß ihr die Antwort nicht kennt und auch nicht wißt, wie ihr sie finden könnt, und dabei die Frage „Wer bin ich?“ doch in euch brennen zu lassen?
„Wer bin ich?“
Können wir es uns erlauben zu sehen, daß wir nicht wissen? Wenn wir annehmen, wir wüßten, dann beenden wir die Untersuchung. Wenn wir annehmen, wir wüßten, wie wir diese Frage anzugehen haben, dann nehmen wir an, daß wir die Antwort bereits kennen und wissen, wonach wir suchen. Vielleicht besteht das wirkliche Wissen darin, nicht zu wissen. Wenn ihr euch erlaubt zu sehen, daß ihr nicht wirklich wißt, und daß ihr nicht wißt, wie ihr wissen könnt, dann kann etwas geschehen. Vielleicht ist das eure erste Chance, wirklich etwas zu wissen. Die Annahmen, daß ihr wißt, und daß ihr wißt, was zu tun ist, sind Barrieren für wahres Wissen. Wenn ihr schließlich wißt, daß ihr nicht wißt, dann habt ihr endlich absolutes Wissen. Vollkommene Unwissenheit ist das, was zu wahrem Wissen führen wird.
Ihr seht, der Verstand (mind) hat hier keine Funktion. Diese Untersuchung hat nichts mit eurem Verstand zu tun. Euer Verstand kann nur die Frage beantworten und feststellen, daß manche der Antworten nicht die Antworten sind. Das einzige, was wir tun können, ist zu eliminieren, was wir zu wissen glauben, und sehen, daß wir in Wirklichkeit nicht wissen. Das ist alles, was wir tun können. Wir können nichts Positives tun, um zu beginnen, etwas herauszufinden, weil wir in dem Moment, in dem wir das tun, bereits annehmen, daß wir wissen, wohin wir gehen. Woher wißt ihr, was geschehen sollte? Dieses Wissen ist aus der Erinnerung, aus vergangener Erfahrung abgeleitet.
Wenn ihr seht, daß ihr nicht wißt und auch nicht wißt, wie ihr wissen könnt, dann könnt ihr mit all den Aktivitäten aufhören, durch die ihr zu wissen sucht, und dann wird vielleicht etwas geschehen. Vielleicht ist eine andere Art von Wissen möglich, ein Wissen, das vollkommen frisch ist. Es ist auch möglich, daß das Wissen nur im Nichtwissen besteht. Vielleicht werdet ihr nur wissen, daß ihr nicht durch etwas von dem definiert seid, wodurch ihr euch gewöhnlich definiert, und daß es keine andere Weise gibt, euch zu definieren. Ihr wißt vielleicht nur, daß ihr undefinierbar seid und das Wissen, daß ihr undefinierbar seid, Freiheit ist. Vielleicht ist das also die endgültige Definition von euch. Aber das ist eine Erfahrung, eine Einsicht, und nicht nur eine logische Schlußfolgerung.
„Wer bin ich?“ ist eine sehr persönliche Frage. Sie ist auf ganz intime Weise eure Frage. Sie ist nicht theoretisch, und sie ist auch nicht etwas, das ihr nur durch Nachdenken beantworten könnt. Niemand anders kann sie für euch beantworten. Sie muß zu eurem eigenen persönlichen Problem werden. Und was immer geschieht, während ihr die Frage untersucht, ihr müßt ihrer nur gewahr sein. Ihr müßt nicht zu Schlußfolgerungen gelangen. Es ist ein Forschen mit offenem Ende. Und was immer ihr findet, braucht ihr nicht in Worte zu fassen.
Gibt es Fragen?
Schüler: Es klingt so, als wolltest du sagen, daß du das Gefühl hast, Freiheit sei umgekehrt proportional zur eigenen Selbstdefinition.
A.H. Almaas: Ja. Wenn du dich definierst, dann schränkst du dich ein. Die Tatsache, daß du dich definierst, weist darauf hin, daß es etwas Größeres als die Definition gibt.
S: Ich merke, daß ich alle paar Jahre den Wunsch verspüre, mit ganz wenig Gepäck in ein fremdes Land zu reisen. Es ist so, als nähme ich eine Pause von mir selbst, und das fühlt sich sehr frei an.
AH: Das ist ein Versuch, einen gewissen Abstand von deiner persönlichen Geschichte zu bekommen. Viele Menschen haben das Gefühl, daß sie eine Pause von sich selbst brauchen. Viele Leute fahren deshalb in Urlaub. Aber du siehst, Veränderung des physischen Raums kann zwar ein wenig helfen, das Wichtige aber ist, aus der persönliche Geschichte herauszukommen, und die nimmst du in deinem Geist (mind) mit.
Viele Menschen fühlen dieses Bedürfnis und versuchen auf vielerlei Weise, Abstand von ihrem persönlichen Leben zu gewinnen. Eine solche Möglichkeit ist ins Kino gehen oder in einen Roman eintauchen. Warum gehen Menschen ins Kino? Um zu fliehen, um einen Miniurlaub von sich selbst zu nehmen. Ihr geht in einen dramatischen Film, laßt euch ganz mitreißen und vergeßt euer Leben. Ihr seid ganz jemand anders. Das ist der Urlaub, und wenn der Film dann vorbei ist, kommt ihr gleich wieder zurück.
Das, wovon wir hier sprechen, ist viel radikaler. Diese Frage wirklich zu beantworten, heißt vollkommen außerhalb eurer persönlichen Geschichte und unbeeinflußt von ihr zu sein. Das kann nur durch eine radikale Transformation im Inneren geschehen – dadurch, daß ihr wirklich unmittelbar seht, daß ihr nicht diese Geschichte seid, nicht dadurch, daß ihr versucht, aus ihr herauszukommen.
S: Ich nehme an, das kleine Muster meiner