Essentielles Sein. A.H. Almaas
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Ihr schließt also die Schule ab, beginnt eine Familie zu gründen und eure Karriere aufzubauen, auf eure Erfolge hinzuarbeiten und eure Ideale zu verwirklichen, was immer sie sind. Manche Menschen erreichen ihre Ideale oder verwirklichen ihre Pläne niemals; dann hoffen sie immer noch, daß der große Triumph noch kommt. Vielleicht schieben sie den Erfolg sogar hinaus, damit sie sich dem Bewußtsein nicht stellen müssen, daß er ihnen keine Erfüllung bringt. Wenn sie ihre Ziele niemals erreichen, brauchen sie den Sinn ihres Lebens nicht zu hinterfragen. Ein paar glückliche Menschen verwirklichen ihre Träume, und diese Frage stellt sich für sie ganz natürlich. Wenn sie empfindsam sind, lassen sie sich dann nicht mehr so leicht von dieser Frage ablenken.
Es ist nicht leicht, jemanden, der noch Träume, Pläne und Ideale hat, die noch nicht verwirklicht wurden, davon zu überzeugen, daß die Frage des Sinns wichtig ist und daß sie nichts mit all diesen Dingen zu tun hat, ganz gleich ob sie verwirklicht wurden oder nicht. Aus diesem Grund wurden in Schulen innerer Arbeit früher nur Menschen in reiferem Alter angenommen. Jüngere Menschen hielt man nicht für fähig, die Hoffnung darauf aufzugeben, daß die Verwirklichung ihrer Träume sie befriedigen würde, außer sie waren vielleicht schon sehr früh enttäuscht worden.
Wie ihr wahrscheinlich beobachtet habt, sind die meisten von uns noch so gestrickt, hoffen wir immer noch, daß dieser oder jener Plan es bringen wird. Es ist völlig in Ordnung, Kinder, einen Job, bestimmte Ideale zu haben, nach denen man leben will. Aber diese Dinge beantworten die Sinnfrage nicht. Sie haben eine anderen Zweck: sie unterhalten euch, füllen euch den Bauch, wärmen euer Bett, leisten euch Gesellschaft und schenken euch Intimität, liefern etwas, womit man sich beschäftigen kann. Aber sie liefern euch nicht den Sinn des Lebens.
Es hängt von vielen Dingen ab, ob man sich dieser essentiellen Frage stellt. Es hängt davon ab, wie intelligent man ist, wieviel Erfahrung man in seinem Leben gesammelt hat, von der Erziehung in den frühen Jahren der Kindheit, von vielen Faktoren. Und Menschen benutzen viele Tricks und Ablenkungen, um die Konfrontation mit dieser Frage zu vermeiden.
Manchmal strengt sich ein Mensch aus ganzem Herzen und mit seiner ganzen Energie zwanzig oder vierzig Jahre lang an, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Etwas treibt ihn dazu, seine Ideale zu verwirklichen. Er braucht dieses Ziel nicht zu erreichen, um zu überleben oder um seine aktuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Was bedeutet ihm dann sein Erfolg? Vielleicht ein wenig mehr Geld, als er vorher hatte. Aber ist es das, was ihn antreibt? Ist das der Sinn von Erfolg? „Also, ich werde mich mit mir selbst besser fühlen, es wird mir dann gut gehen, ich werde das Gefühl haben, daß ich wertvoll bin.“ Es gibt seinem Leben also eine Art Bedeutung, Wichtigkeit und Sinn, und das ist die treibende Kraft. Wir idealisieren bestimmte Dinge, und dann glauben wir, daß diese Ideale unseren Aktivitäten Sinn und Bedeutung verleihen. Um zu fühlen, daß das, was wir tun, bedeutsam ist, klammern wir uns an ein Ideal, projizieren Vollkommenheit in die Zukunft und arbeiten darauf hin.
Die Suche nach Bedeutung, nach dem Gefühl, das Leben, das wir leben, lohne sich, ist also die wirkliche Basis all unserer Träume. Wenn ihr euch einer Gruppe innerer Arbeit anschließt, dann macht ihr vielleicht die Selbstverwirklichung zu eurem Ideal. Das ist immer noch etwas, auf das ihr hinarbeitet, um euch Sinn zu geben. Eine Karriere kann für einen Menschen diese Funktion haben, oder es kann eine Beziehung oder eine Geliebte sein. Es kann eine kreative oder künstlerische Tätigkeit oder sonst ein Projekt dieser Art sein. Das Ausüben oder Praktizieren einer jeden Fähigkeit - intellektuelle, physische, kreative Fähigkeiten - können unserer Suche nach Sinn dienen.
Das, wovon ich spreche, ist nicht ungewöhnlich oder verborgen. Wenn ihr jemanden fragt: „Was gibt dir deine Karriere?“, dann wird er wahrscheinlich sagen: „Sie gibt mir ein spannendes, aufregendes Leben, ein Gefühl von Sinn in meinem Leben.“ Das ist das, was die Leute glauben. Es ist das, was in unserer Gesellschaft akzeptiert ist.
Natürlich gibt es andere Möglichkeiten, das Gefühl eines Mangels an Sinn zu vermeiden. Viele Menschen sind von einer Form von Stimulation oder von stimulierenden Aktivitäten abhängig, die ihnen intensive Empfindungen verschaffen. Beispiele dafür sind gefährliche Aktivitäten wie bestimmte Sportarten, Verbrechen und Drogen. Man hat da ein Gefühl intensiven Empfindens, starker Stimulierung, das einem das Gefühl vermitteln kann: „Ja, ich existiere, da ist wirklich etwas, mein Leben ist wirklich, es ist nicht nur leer und sinnlos.“ Andere neigen nicht dazu, sich intensive Empfindungen zu verschaffen, sondern versuchen, das ganze Thema zu vermeiden, indem sie sich betäuben, abstumpfen und einschlafen. Manche Menschen verbringen Jahre, sogar ganze Leben damit, auf der Oberfläche ihrer selbst zu leben.
Jene, die um den Trieb nach Sinn zu befriedigen, verschiedene Ziele und Aktivitäten verfolgen, betäuben eigentlich auch diesen Trieb, indem sie nämlich glauben, daß sie ihn erfüllen oder zumindest dabei sind, ihn zu erfüllen.
Die Aktivitäten, in denen wir Sinn suchen, kann man gewöhnlich nur sehr schwer aufgeben, weil unser tiefes Bedürfnis, etwas zu haben, worüber wir nachdenken können, was wir tun können, so intensiv wird wie der Trieb selbst. Manche Menschen grübeln permanent, weil sie das Gefühl nicht ertragen, nicht zu wissen, was sie tun sollen, wenn die Aktivität aufhörte. Solange wir ein Ziel haben, und sei es auch nur so etwas wie einen Schmerz im Körper zu heilen, gibt es einen Sinn in unserem Leben. Der Sinn meines Lebens besteht vielleicht darin, zu versuchen, mein verletztes Knie zu heilen. Manche Menschen suchen in ihren Kindern nach dem Sinn ihres Lebens. Viele Mütter können in ihrem eigenen Leben keinen Sinn finden und deshalb versuchen sie, durch ihre Kinder zu leben.
Ihr seht wie allgegenwärtig dieses Thema ist. Auch wenn wir mit Aktivitäten beschäftigt sind, die uns wirkliche Lust und Freude machen, hoffen wir immer, daß sie außerdem noch unserem Leben Sinn und Bedeutung verleihen. Wenn ihr auf eine bestimmte Weise lebt, so glaubt ihr, wird euer Leben nicht leer sein. Vielleicht habt ihr das Gefühl, sich der Sinnlosigkeit und Leere wirklich auszusetzen könnte mehr sein, als ihr ertragen könnt. Und es ist wahr, daß wir ohne Sinn in unserem Leben, ohne ein Gefühl von Bedeutung, von Wert und Wichtigkeit, nicht leben können. Wir versuchen also, Ersatz dafür zu finden. Die Aktivitäten sind nicht falsch oder schlecht; es ist nur so, daß sie mit unrealistischen Erwartungen befrachtet sind. Für ein Kind ist das Bedürfnis der Mutter, durch ihr Kind zu leben, eine Last. Eine kreative Unternehmung ist nicht mehr dieselbe, wenn sie dazu benutzt wird, das Bedürfnis nach Bedeutung zu erfüllen. Sie wird durch Ablenkung, Vermeiden und Verdrängung belastet.
Letztlich ist das Verlangen nach Sinn und Bedeutung eine Suche nach Identität. Unsere Aktivitäten sollen uns ein Gefühl dafür geben, wer wir sind. „Was gibt mir Bedeutung?“ Wenn wir das erforschen, dann werden wir finden, daß es etwas mit einem Selbstgefühl zu tun hat. „Wer bin ich? Ich bin der Pfarrer dieser Kirche (oder ein Arzt oder die Frau eines Mannes, der das und das ist, und so weiter).“ Obwohl wir diese Rollen als bloße soziale Konvention und letztlich unwichtig abtun können, spielen diese Identitäten in unserem Kopf doch eine große Rolle. Wir klammern uns an diese Dinge, damit sie uns ein Gefühl von Identität und Sicherheit geben. Sogar unsere Beziehungen zu Menschen geben uns ein Gefühl dafür, wer wir sind, als wären sie Spiegel. Vielleicht ist es auch mein Erfolg, der mir scheinbar meinen Wert widerspiegelt. Ich glaube, wenn ich mein Ziel erreiche, dann bin ich etwas geworden. Wir versuchen alle, jemand zu werden, einem bestimmten Bild oder Image ähnlich zu werden. Manche sehen sich als jemanden, der anderen hilft: als Arzt, als Lehrer, als Anwalt, als ein Führer, als Therapeut, als perfekte Mutter oder ein vollkommener Vater und so weiter. Für andere ist es das Image eines großen, starken, erfolgreichen Geschäftsmannes oder einer solchen Geschäftsfrau, oder das Image eines kultivierten oder brillanten