Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg

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Reportagen 1+2 - Niklaus Meienberg

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Eindrücke zu sammeln und sie nachmittags im «Graffiti» wiederzugeben. Das Hämischste und Gehässigste war zu erwarten, und so kam es dann auch. «Eine graue und eine grauenhafte Maus» seien gewählt worden, zitierte Meienberg einen angeblichen Gesprächspartner, und das muss jedenfalls auch seine Meinung gewesen sein. (…) Es geht in Richtung des linken Faschismus.

      Faschistoid, Faschismus – die Linken verwenden die Etiketten heute nicht mehr so pauschal, wenn sie die Rechten beschimpfen wollen. Mit solchen Zaunpfählen schlagen heute die Rechten um sich, wenn ihnen etwas nicht passt. Sehr intelligent: linker Faschismus (= trockenes Wasser). Herr Steinacher würde zwar auch gerne schreiben, man solle uns den Kopf umdrehen, aber er ringt mit dem Ausdruck und sagt's verschlüsselt.

      Vielleicht ist Frau P. in Lenzburg eine Abonnentin des Bulletins des Hofer-Clubs? Muss aber nicht sein.

      Ab ins Ausland, wie gewünscht. Nach Weihnachten ein Anruf von Rose-Marie und Pat-Trick, den beiden Schlemmern, die nach Venedig gereist sind: «Hier ist die Stadt ganz von Wasseradern durchzogen und von guten Restaurants, wollt Ihr nicht auch ko…» Dann bricht die Verbindung ab, und wir kommen. Aber können wir Thomas Wagner so allein und ohne Aufsicht in Zürich zurücklassen? Der macht in der Zwischenzeit sicher wieder einen Patzer. Bei der Verleihung des Grossen Literaturpreises an Federspiel hat er zum Beispiel gesagt, in Federspiels Schaffen sei «kaum Zürcherisches zu finden, Zürich sei vielleicht zu klein oder zu schwach ausgebildet, um als Sujet Federspiel zu genügen», und er kennt also offensichtlich Jürgs ausgedehnte, starke Reportage, in welcher die Biographien von Fritz Zorn, dem Sprayer und dem Telefonzentralen-Sprengfachmann Hürlimann miteinander verschränkt sind, nicht; und trotzdem hat er die Frechheit, Federspiel zu gratulieren. Er kennt übrigens auch die typhoide Mary nicht und hat überhaupt, wie sich im Gespräch mit ihm herausstellt, noch nie etwas von Federspiel gelesen. Macht aber nichts, er gratuliert trotzdem. Er muss ja pro Woche mindestens sechsmal gratulieren: dem Gärtnermeister-Verband, den kantonalen Fischzüchtern, dem Dachverband einheimischer Organisten, der Libellen-Gewerkschaft und den Hündelern (kynologischer Verein). Warum also nicht auch Federspiel? Die Zeremonie der Preisverleihung war denn auch entsprechend festlich und ungemein läbtig. Zuerst spricht der Sargschreiner (Wagner), dann der Friedhofsgärtner (Egon Wilhelmini), dann der Krematoriumsbeamte (Anton Krätzli).

      Ja, das passt ins Schauspielhaus, so gut wie ein Stück von Engelmann. Es passt aber nicht zu Federspiel. Und soll man also wirklich dieser Plüsch- und Schnapsbourgeoisie unsern Schriftsteller ganz überlassen? Er hat das nicht verdient. Also muss der Auferstehungsbeamte noch eine improvisierte, auf dem Programm nicht vorgesehene Rede halten. Auch dem Unseld kann man ihn nicht ausliefern. Unseld hat die Stirn, aus Anlass der Preisverleihung ein Suhrkamp-Federspiel-Inserat erscheinen zu lassen, in welchem eine zwanzig Jahre alte Rezension zitiert wird: «… man mag sich getrost dem neuen Buch des begabten Schweizer Schriftstellers Jürg Federspiel anvertrauen.» Begabt! Das hat ihn gefreut, dass er jetzt endlich als begabt gehandelt wird. Hätte man nicht etwas Neueres bringen können, z.B. Robert Wilson aus «USA Today», welcher geschrieben hat: «An existential Dickens: Thats J.F. Federspiel», oder «Our disquiet mounts imperceptibly; something is winching us higher and higher. This is a chilly work, but it is a chill we catch.» War wohl zu teuer, neue Rezensionen zu sammeln.

      Der alte Unseld ist nicht da, der Anlass war ihm vielleicht zu wenig wichtig, also ist der junge gekommen, welcher die Firma aber auch ganz vorteilhaft vertritt. Der ist hübsch und tipptopp gedresst und wird den Laden bald einmal erben, so wie der Sohn von Kim il Sung dereinst Nordkorea erben wird. Zu Federspiel hat er eine Beziehung wie die Katzen zum Schwimmen. Frau Denise, Wagners Gemahlin, ist auch gekommen und geht furibund auf mich los, auch sie hat noch kein Wort von Federspiel gelesen, scheint mit meiner Stegreif-Rede nicht zufrieden gewesen zu sein und sagt, sie hoffe, dass ich jetzt nicht auch noch ins Muraltengut zum Essen komme, nachdem ich mich im Schauspielhaus so schlecht aufgeführt habe, aber ich komme doch, Denise, Jürg hat mich nämlich eingeladen. Und Wagner sagt, mit einem Cocktailglas in der Hand: «Sie, was Sie im Schauspielhaus gemacht haben, ist eine Frage des Karakters, für mich sind Sie eine non-valeur», worauf man wohl auch auf französisch etwas erwidern darf: der Ausdruck «nullité» ist angebracht, und damit wird Thomas Wagner bezeichnet.

      Worauf sich das Cocktailglas entfernt. Das Muraltengut ist übrigens ein schöner Rahmen für solche Feiern, und nachdem Wagners dann um Mitternacht verschwunden waren, uf widerseh, ich mues zu mine Chinde, sagte Denise, schien es uns zu gehören. Am Boden im ersten Stock liegt ein Teppich, den der Monarch Haile Selassie der Stadt Zürich geschenkt hat. Man kann dort die Monarchie mit Füssen treten, und Zigarren gab es auch und viele Schnäpse. Fedi blühte auf.

      Lieber Nikl. Meienberg. Oft schreibe ich Briefe an Menschen, die es gar nicht gibt, oder die es nicht mehr gibt, die es vielleicht eines Tages gibt, die es gerade jetzt gibt. Es ist gleich, ob die Briefe gelesen werden. Meistens habe ich keinen Grund zum Schreiben. Denn schliesslich bin ich fast bildungsunfähig. Ich schreibe, weil mich Namen berühren. Rosa Luxemburg, Onkel Tom, Naomi Uemura, Frau Holle, Johann Sebastian Bach, Niklaus Meienberg. Manchmal denke ich, dass diese Silbengruppe, die einen Vor- und Nachnamen ergeben, einem ein viel präziseres Gefühl über einen Menschen geben als all die Daten, die man unter demselben Namen auflisten kann. Ich frage mich, ob dem Niklaus Meienberg seine Freundin wohl Marie Juniwald* * Nein, sondern Kreszenz Lautenschlager.heisst. In Rom habe ich einen gefährlichen, ganz jungen Menschen kennengelernt, durchgefüttert – und so, der hiess Sirius Freud. Er war von der deutschen Polizei gesucht. Er war voll von Rachegelüsten und von bösen Plänen. Aber tief innen, da war er eine Feldlerche und ein Kaninchen und ein Glühwürmchen.

      Das kam aus dem Freiamt, war aber nicht von Silvio Blatter, Erika Burkhart oder Toni Halter, und C., die Verfasserin, arbeitet im ehemaligen Kloster Muri als Psychiatriepflegerin und erzählt, wie es den internierten alten Bauernknechtlein dort ergeht.

      Habe Holz geholt fürs Feuer. Es ist Mittag. Die Fliegen sterben jetzt. Da ist eine. Ich weiss nicht, wie es kommt, dass sie wie viele andere jetzt auf den Rücken zu liegen kommt. Verzweifelte fliegenleichte Fliegenenergie. Das tut und macht. Eins, zwei Minuten. Fliegenende.

      Sehr geehrter Herr Faschist. Herr non-valeur. Lieber Johann Sebastian Bach. Tschau Niklaus. Was ich von Ihnen zu Augen bekomme, lese ich. Liebe Frau Holle. Sehr geehrter Herr Hetzbruder. Endlich erlaube ich mir den Versuch zu wagen, Sie mit einem aufrichtigen Verehrerbrief zu erreichen. Sehr geehrter Herr Kaputtmacher und Herunterreisser. Niklaus, wenn Du einmal in der Gegend bist, kannst gern hereinschauen und da sein. Ich wünsche Dir festliche Tage, Deine C. Es geht in Richtung des linken Faschismus. An Gehirnwäsche für junge Hörer wurde ganze Arbeit geleistet. Lieber Onkel Tom von der Eisfeldstrasse. Si sind dä truurigschti Lumpesiäch (Telefon) – und damit ist wohl immer derselbe gemeint, und das bin anscheinend ich.

      Aber nicht sicher.

      Einmal war auch wieder ein Paket in der Post, aber kein Föteler, sondern eine Honigbüchse, sauber verpackt, Poststempel Länggasse, Bern. Zackige Schrift, offensichtlich angestrengt-verstellt. Obenauf lag ein Zettel, dieselbe Schrift: «Hier weiterer Rohstoff zum Nestverschmutzen.» Der Inhalt, wie sich sofort zeigte, stank dann stark. Da war einer nicht über die anale Phase herausgekommen und liebte mich auf seine Weise. Wenn man sich die Verumständungen vorstellt, bitte sehr, Büchse suchen, sauber in dieses doch recht kleine Rezeptakel hineinkacken, Büchslein geruchsfrei verschliessen, verpacken, auf die Post tragen – vermutlich ein Lehrer, sagt Bichsel, der auch schon solches empfangen hatte, das sei eine typische Lehrer-Schrift.

      Aber nicht sicher.

      Kürzlich kam ein Brief aus dem 18. Jahrhundert, Poststempel Muri, und stammte von einem Verwandten, der dort im Kloster gewohnt hat, als es noch nicht Irrenanstalt war. Monachus Muriensis. Ein Freund, von Beruf Historiker und Aktengrübler, hatte in Sarnen, wo sich ein Teil der ehemaligen Murienser Klosterbibliothek befindet, ein Büchlein aufgestöbert, einen sogenannten «Geistlichen Blumengarten», lat. Areola sacra, und mir eine Fotokopie der Titelseite geschickt. Verfasser oder «Collector», also Sammler,

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