Reportagen 1+2. Niklaus Meienberg
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Im Islam – aber das muss ich Ihnen nicht erklären – gilt ANYTHING GOES noch nicht, und mich wundert, dass der Aufruhr, den Ihre «Satanischen Verse» bei den Gläubigen angerichtet haben, Sie verwundert hat. Das ist kein Werturteil über den Islam, sondern nur eine Feststellung. Ich finde im Koran fürchterliche Passagen, die mir einen Schauer über den Rücken jagen, z.B. den 35. Vers aus der 4. Sure: «Männer sollen vor den Frauen bevorzugt werden (weil sie für diese verantwortlich sind), weil Allah auch die einen vor den anderen mit Vorzügen begabte und weil jene diese erhalten. Rechtschaffene Frauen sollen gehorsam, treu und verschwiegen sein.» Aber Millionen von überzeugten Muslims, u.a. auch die Religionsvorsteher im Iran, nehmen das wörtlich als Offenbarung und verstehen auch keinen Spass, wenn man den Propheten Mohammed in «Mahound» umbenennt, was ein anderer Name für den Teufel ist – auch wenn das, wie in Ihrem Roman, ironisch oder trotzig gemeint ist. (Sie verweisen auf die Analogie zu «Neger», welcher Ausdruck abwertend gemeint war und dann von den Betroffenen umfunktioniert wurde.)
Dass Ihr literarisch so hübsches Spiel mit den drei Göttinnen Allat, Al-Uzza und Manat, 53. Sure, Vers 20 & 21, welche, laut Koran, die Einflüsterungen des Satans dem Propheten Mohammed ans Herz legten, den Gläubigen besonders auf die Nerven ging, kann auch nicht erstaunen. Er hätte nämlich diese Göttinnen neben Allah akzeptieren sollen, was für den monotheistischen und erst recht für den frauenfeindlichen Mohammed der schlimmstmögliche Frevel gewesen wäre. («Die Ungläubigen möchten, dass Allah Töchter hat – aber das sei fern von ihm –, und sie selbst wünschten sich nur solche Kinder, wie sie ihr Herz wünscht. Wird einem von ihnen die Geburt einer Tochter verkündet, dann färbt sich sein Gesicht vor Kummer schwarz – und wird düster, und er ist tief betrübt. Wegen der üblen Kunde, die ihm zugekommen ist, verbirgt er sich vor den Menschen, und er ist im Zweifel, ob er sie zu seiner Schande behalten oder ob er sie nicht im Sande vergraben soll.» 16. Sure, Vers 58 bis 60.)
Ich finde Ihr Buch wunderbar, voll von Wundern, auch literarischen, ich lese es als Literatur, und ich empfinde den iranischen Bannstrahl gegen Sie als hundsföttisch, versteht sich. Ich verstehe aber, dass die underdogs des Islam Ihr Buch ganz anders verstehen als wir westlich-nördlichen Literaten, nämlich wörtlich, wie sie den Koran lesen, und ich glaube, dass für viele Unterprivilegierte der Glauben an eine absolute Offenbarung der einzige feste Punkt in einer Welt ist, die ihre Kultur verhöhnt; das Gemüt einer herzlosen Welt. Und ich habe den Eindruck, dass mit den Gläubigen aller Religionen nicht zu spassen ist.
Wie hätte sich diese fürchterliche Geschichte entwickelt, lieber Salman Rushdie, wenn Sie sich, wie seinerzeit viele europäische Aufklärer, gleich nach Erscheinen des Buches der Mühsal des Lügens unterzogen und glaubwürdig den Reuigen gespielt hätten: Mut zur Feigheit (mit reservatio mentalis, wie das die Jesuiten nennen)?
Wir möchten gerne wieder ein Buch von Ihnen lesen. Tote schreiben nicht, und in Ihrem Hochsicherheitstrakt müssen Sie auf die Dauer versauern.
Zürich–Sarajevo
Offener Brief an den Chefredakteur von «Oslobodjenje» und sein Redaktionsteam
Lieber Zlatko Dizdarevic,
aus Zürich kann ich Ihnen melden: keine kriegerischen Vorkommnisse im März. Die Zeitungen plumpsen frühmorgens pünktlich in die Briefkästen, die Redakteure streben unbehelligt in die Zeitungsgebäude, die Waffen schweigen. Wenn eine Rauchwolke in den Himmel steigt, dann beruhigt uns das hier am nördlichen Stadtrand: die Abfallverbrennungsanlage arbeitet. Wir arbeiten (fast immer). Die Armee ist ruhig, der Flughafen funktioniert, die Schulen beschulen, die Mägen verdauen, die Verwaltungen verwalten, es gibt nicht nur keine Warteschlangen vor den Läden, sondern auch keine Scharfschützen, welche uns am Einkaufen hindern.
Hingegen: fünf Kilometer Stau auf der Autobahn N1.
Die Hunde machen einen gepflegten Eindruck, auch unsere Katzen sind ausreichend gefüttert. Wir haben die Wahl zwischen mittelmässigem, gutem und exzellentem Katzenfutter. Manchmal hört man es schiessen, dann weiss man: Es ist Sonntag, und es wird mit Gewehren auf Zielscheiben geschossen in den Schiessständen. Die letzte richtige Schlacht liegt ca. zwei Jahrhunderte zurück. Franzosen gegen Russen, auch unsere Grossmütter können sich nicht daran erinnern. Ein Druck auf den Lichtschalter: Es wird hell, ein Drehen am Wasserhahn: es fliesst. Bald kommen die Ferien, vielen steht ein schmerzhafter Verzicht bevor, ins einstmals so preiswerte Jugoslawien wird man nicht reisen können, jedenfalls nicht nach Sarajevo.
Unbeschädigt steht das putzige Gebäude des «Tages-Anzeigers» (eine lokale Zeitung), es wurde schon wieder kein Beschuss gemeldet. Keine Panzergranate hat eingeschlagen, kein Redakteur musste sich bücken oder auf den Boden werfen, weil die Front nur fünfzig Meter entfernt ist, es rauchen nur die Köpfe, nicht das Haus. Und gekämpft wird um Marktanteile, geschossen nur im übertragenen Sinn: auf die Konkurrenz. Der Tod erfolgt meist auf zivilisierte Art, im Bett zu Hause oder in freundlichen Spitälern, Krebs kommt vor und Herzinfarkt, und manchmal krepieren ein paar Junge an einem Schuss, den sie sich selbst gesetzt haben. Das Bestattungswesen ist intakt.
Von einer Belagerung der Stadt Zürich ist nichts zu spüren. Belagert und umzingelt sind wir nur vom Wunsch, das Schlachten im ehemaligen Jugoslawien aus unseren Köpfen zu verdrängen.
Dabei haben wir noch kürzlich in einem anderen Krieg mitgefiebert. Der militärische Spaziergang am Golf hat den meisten, als unblutiges Computergame, gefallen, so viel schweizerische Präzision bei der Vertreibung dieser irakischen Banditen aus Kuwait, so sauber und fast ohne Leichen.
Und weil es in Bosnien kein Erdöl gibt, das man dringend befreien muss, begreifen wir natürlich, wie schwierig oder unmöglich eine militärische Aktion der Alliierten dort wäre. Jeder Schweizer ein Stratege! Oder ein Taktiker. Und übrigens sind wir neutral, und die ethnische Zusammensetzung Bosniens soll so kompliziert sein, dass man beim besten Willen nicht weiss, wie dort erfolgversprechend eingegriffen werden könnte.
Doch, wir verfolgen das Gemetzel am Fernsehen, aber es verfolgt uns nicht. Reality show. Wird so real serviert, dass es uns phantastisch vorkommt, als Ausgeburt einer rasanten Phantasie. Wir empfinden natürlich Mitleid, vor allem für uns, weil wir nicht helfen können. Und wir würden doch so gern. Und dann gibt es ja auch noch Somalia, Angola etc., überall zugleich können wir nicht hinblicken. Auch waren uns die Kuwaiter (die wir nicht kennen) sympathischer als die Kroaten und Bosnier und Kosovo-Albaner (die wir kennen, weil viele in der Schweiz arbeiten). Es heisst von ihnen, sie seien rauhe Gesellen, die sich nicht so recht bei uns einordnen wollen.
Lieber Zlatko Dizdarevic, Sie sehen doch auch, wie kompliziert unsere Lage ist, wie hoffnungslos. Als Journalist und Chefredakteur, als ehemaliger Korrespondent in Kairo und Verfasser eines Buches über die israelisch-arabischen Beziehungen haben Sie sicher Verständnis für unsere Komplexe und komplizierten Komplexitäten. Der Zufall der Geburt hat Sie nach Sarajevo verschlagen, wo Sie gegenwärtig die Zeitung «Oslobodjenje» leiten, und zwar im Keller, denn das Zeitungsgebäude wurde Stock für Stock von serbischen Granaten abgeräumt. Vor dem Krieg betrug die Auflage 80'000, jetzt ist sie auf 1000 (in Worten: tausend) gesunken, die Belegschaft schrumpfte von 100 Journalistinnen und Journalisten auf 40. Manchmal werden auch nur 300 Exemplare der Zeitung, die jetzt noch aus vier Seiten besteht, verteilt, unter Lebensgefahr.