Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann

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Die Gärten der Medusa - Dieter Bachmann

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nehmen es wohl für Liebe, sind geschlechtsreif geworden, immer erregt, ohne dass ihnen ihr Gemüt dabei folgen könnte. Vielleicht brauchen sie keines.

      Niemand weiß, was Liebe ist. Was hatten der heilige Franz und seine Clara miteinander? Wen geht es etwas an?

      Wild hatte im Rundfunk eine Textilarchäologin gehört, die von der Restauration der letzten Kutte des Franziskus erzählt hatte. Es sei in der katholischen Kirche Gesetz, dass eine Reliquie nach ihrer Weihung nicht mehr verändert werden dürfe, man könne also davon ausgehen, dass das, was man später finde, den Originalzustand bei der Einsargung wiedergebe.

      Nun, sie habe die Kutte des heiligen Franz kürzlich untersucht, berichtete die Archäologin, und dabei Flicken am zerlöcherten Saum festgestellt, Stoffflecken, die aus einem anderen Gewebe gestammt hätten. Und offenbar kurz vor der Grablegung aufgenäht worden seien.

      Die Flicken stammten, das habe sie dann nachprüfen können, aus der Kutte der Clara – dort habe das entsprechende Stück Stoff gefehlt. Kein Zweifel, stellte die Archäologin fest: Clara hatte die Kutte des Toten noch einmal in die Hand genommen, ein letzter Liebesdienst. Franziskus sollte nicht mit einem zerlöcherten Gewand in die Ewigkeit eingehen. Clara hatte mit dem Stoff aus ihrem Rock die Löcher in seiner Kutte verdeckt.

      Wenn es auch das letzte Hemd war, ganz sollte es wenigstens sein. Das gab sie ihm mit auf die Reise.

      Borbakis und seine Esther, nun gut.

      War Wild neidisch? Auf solche Kerle wie diesen Nikos? Wild hatte seine Träume, eigentlich immer denselben Traum. In diesem war er mit einem Mädchen, immer demselben, oder waren es mehrere untereinander ähnliche? Mit dem Mädchen hatte er eine Zärtlichkeit gemeinsam, etwas Vertrautes, das erwidert wurde; Berührung, Umarmung. Aber vor allem Berührung. Wenn er erwachte, wusste er für kurze Zeit, dass er eigentlich noch liebesfähig gewesen wäre.

      Das andere, das Borbakische fehlte ihm. Der Überwältiger. Das wollte er nicht. Aber das vermisste er dann doch, dieses Gefühl, vom Weibe zu kommen. Herauskrabbeln aus dem Begrabensein, das man nicht einmal mehr gespürt hat, so sehr war es das Normale geworden und alltäglich. Fern aller Berührung, die Abenteuer gewesen wäre.

      Wild erinnerte sich, oh ja, wie er einst, am frühen Morgen, aus einem Hotelzimmer kommend, die Treppe herunterkam ins Frühlicht. Oben schlief die Frau noch.

      Auf der Treppe war er voller Hochgefühl gewesen, erlöst, und grüßte wie höhnend den Portier, der missmutig salutierte. Herrenbesuch war nicht vorgesehen im Einzelzimmer, und Wild hätte gern einen Federhut geschwenkt gegen den Missmutigen, ein Barett geschwungen, so dankbar war er für diese Nacht, die keineswegs schäbig, sondern einfach und bei Gelegenheit dem Glück abgestohlen, vielleicht sogar ein bisschen ertrogen gewesen war, stellte man den vorangegangenen Abend in der Weinstube in Rechnung.

      Aber sie war nicht willenlos gewesen, nicht Opfer, gar nicht, nur eben angesäuselt, hatte ihn mitgeschleppt, an der Hand die Treppe hoch, wenn er sich richtig erinnerte, und er war ihr Liebhaber. So ist das, Herr Portier!

      Wild hatte den Kragen des Regenmantels hochgestellt, übermütig. Prall mit neuem Atem, mit Elixier, grader geworden, ein Mann. Federnd ging er die Straße entlang, in einen Tag, wie schon lange keiner mehr, so schien es ihm, gewesen war.

      Lange her.

      Im Grunde unterscheidet uns wenig von den Männern dort auf den Bänken, sagte er zu Borbakis. Ein bisschen Seife am Morgen. Wir wechseln die Kleider vielleicht öfter. Aber wir sitzen mit ihnen auf derselben Bank, im selben Warteraum. Wir haben vielleicht Hemmungen, die sie nicht mehr haben. Die trinken schon am Morgen, während wir uns gegenseitig versichern, dass wir erst am Abend damit anfangen. Um dann doch schon um drei in der Schweizer Weinstube zu sitzen. Uns sieht man unsere geheizten Wohnungen an und unsere Behauptung, wir hätten noch etwas Wichtiges zu tun. Hast du es gehört, Borbakis, das noch?

      Borbakis sah in sich hinein.

      In dem noch ist die letzte Grenze auch schon eingezeichnet, nicht wahr? Die dort gehen ehrlicher damit um. Sie sitzen, die Bierbüchse in der Hand, vor ihrem Ende und schauen ihm ins Auge.

      Der hörte nicht zu. Borbakis mit seiner kubanischen Zigarre, nach proletarischem Muster ein Vorschuss auf das Glück der klassenlosen Gesellschaft, war schon wieder bei den letzten Fragen, oder denen, die er dafür hielt. Ob man unter Umständen, die später gesellschaftlich ausgeglichen würden, nicht sofort das Recht habe auf seine Neurosen? Und sonst noch auf dies oder jenes?

      Was sollte Wild sagen? Pascals Wein, ein südfranzösischer Syrah, hatte ihn zunächst aufgestellt, dann aber träge gemacht.

      Hast du dir schon überlegt, wie du begraben sein willst?

      Wild schaute Nikos an.

      Oder wo? Oder ob überhaupt?

      Ein Flugzeug flog über ihnen vorbei, so unangenehm bedeutungsvoll wie in einem Film von Ingmar Bergman. Westabflug in Kloten. Sie schauten nicht auf.

      Er nämlich, Borbakis, bitte darum, seine sterblichen Überreste, er sagte «sterbliche Überreste», nach Torcello zu bringen. Torcello, wiederholte er etwas lauter, du weißt schon, dort bei Venedig, die Insel mit der Kathedrale, Santa Maria Assunta. Du kennst doch das Mosaik, Madonna Theotokos?

      Was für ein Angeber war das.

      30000 Einwohner nach der Besiedlung durch die Veneter im fünften Jahrhundert, heute vielleicht noch fünfzig. Verlandet, versumpft, halb versunken das moorige Inselchen, schon am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts. Und gerade deshalb ein traumhafter Ort, reine, märchenhafte Schönheit nur dreißig Vaporettominuten von dem Gewimmel Venedigs. Ein Ort, an dem die Zeit schon vergangen ist.

      Dorthin mit meiner Asche, sagte Borbakis, fein gemahlen, in die Locanda Cipriani; ich war dort einmal für einen Augenblick lang glücklich.

      Ich verfüge, es ist mein letzter Wille: Mein pulverisierter Astralleib ist in die dortigen Salzstreuer umzufüllen, auf dass ich post mortem den guten, wenn auch nicht exzellenten Gerichten der Locanda zu mehr Geschmack verhelfen möge und ich auf diese Weise, im Darmverlies der über Burano auf die Fondamenta Nuova zurückkehrenden Ausflügler, und, bei ihrer Abreise – in Venedig bleibt ja keiner länger als ein, zwei Nächte – über die Lagune hinaus in alle Himmelsrichtungen reisen werde, wo, wenn dann immer noch etwas von mir da ist, und die Theorie weiß ja, dass nichts auf Erden je verloren geht, ich mit den entsprechenden Wassern den Weg schon selber weiter finden werde, weiter und weiter.

      Der Meienberg, der Paris-Fan, erinnerst du dich?, der hat sich in die Seine einstreuseln lassen. Das war ähnlich, wenn auch kürzer gedacht.

      Ja, Paris, sagte Borbakis jetzt. Nur noch vier Stunden entfernt, vier Stunden und drei Minuten.

      Wild sagte nicht, was ihm auf der Zunge lag. Viel zu nahe für seine Sehnsucht.

      Paris, Paradis. Für mich so etwas wie der Siebente Himmel, sagte Borbakis.

      Wild sah gleich das Kreuz auf Sacré Cœur und die Blitzableiter auf der Tour Eiffel und die Seine, wie sie über die Spitze des Île de la Cité herunterkommt, und den Fahnenmast auf dem Arc de Triomphe und die Himmelszeiger seines persönlichen Walhalla, die Fernsehantennen auf den Dächern rund um sein Hotel im Quartier Latin, an der Kreuzung Rue de Fleurus und Rue d’Assas, in dem er, im Herzen der graublauen Großstadt, das oberste Stockwerk, das sechste, das Mansardengeschoss, blechgedeckt, zu beziehen

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