Die Gärten der Medusa. Dieter Bachmann

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Die Gärten der Medusa - Dieter Bachmann

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unberührt von der vergangenen Nacht. Waren wohl Studentinnen. Vielleicht gingen sie in die Alliance Française drüben am Boulevard Raspail.

      Wild schaute über die Contrescarpe. Das Wort Platzhalter schien ihm passend für diesen Daseinsaugenblick. Er saß bedeutungsvoll, nämlich als Stellvertreter für Hemingway.

      Wo links neben ihm das letzte Tischchen der langen Reihe, der letzte Stuhl standen, ging es um die Ecke in die Rue Cardinal Lemoine. Nur drei Häuser weiter, grad bevor die Straße sich abzusenken begann gegen die Rue Monge, den Boulevard Saint-Germain und die Seine, in der Nummer 74 hatte Hemingway ein paar kurze, pralle, dichte Jahre lang gewohnt, Ernest und die um ein paar Jahre ältere Hadley. «There never was another part of Paris that he loved like that», sagte er später, in «Schnee am Kilimandscharo».

      Seine Wort-für-Wort-Prosa, einfach und kräftig wie Bauernbrot: «Nachts mussten wir die Fenster wegen des Regens schließen, und der kalte Wind blies die Blätter von den Bäumen der Place Contrescarpe.» Braucht es auch nur eine Silbe mehr, um die Trauer der Vergänglichkeit auszudrücken?

      Wild blätterte. Die Mädchen saßen hinter aufgeschäumtem Kaffee und aßen Brioches, nach dem Cappuccino war nun Caffè macchiato in Mode.

      Interessant war, dass in jenem Kilimandscharo Hemingways Held oder vielmehr Unheld an Paris zurückdenkt, im Wundfieber fantasierend und mit tiefstem Bedauern. «Nein, er hatte niemals über Paris geschrieben», heißt es da über Harry, «nicht über das Paris, an dem er hing.»

      «Wir hätten in Paris bleiben sollen», erwidert die Memsahib, Harry’s Frau, die keinen Namen hat.

      Wie gut konnte Wild das verstehen.

      Aber Hemingway hatte sehr wohl über Paris geschrieben. Als er, alt geworden, im November 1956 nach Paris zurückkam, übergab man ihm im Hotel Ritz zwei kleine Schiffskoffer, die er im März 1928 dort deponiert hatte. Hinterlassen – und vergessen. Sie enthielten ein ansehnliches Bündel Manuskripte aus der Pariser Zeit, die Keimzelle zu jenem Buch, das sein letztes sein sollte und eines seiner schönsten werden würde: «Paris, ein Fest fürs Leben».

      Die jungen Amerikanerinnen, wehende Strähnen über den Schläfen, waren weitergezogen. Wild sah über den Platz hinweg in seinem Morgenfrieden. Er hätte nur aufstehen und auf der anderen Seite des «Delmas» in die Rue Descartes einbiegen müssen, um schon nach wenigen Schritten vor der Nummer 39 zu stehen, dem Haus, in welchem Hemingway sich damals ein Arbeitszimmer gemietet hatte. Verlaine hatte hier gewohnt. Und jetzt stand Hemingway am Fenster und schaute hinaus auf die Dächer von Paris. Wie fängt man an? Verzweiflung des Beginnens.

      «I would stand and look over the roofs of Paris and think, ‹Do not worry. You have always written before and you will write now. All you have to do is write one true sentence.› So finally I would write one true sentence and go on from there.»

      Was alles entsteht in solcher Einsamkeit. In den Schachtelzimmern, wie es einer genannt hat, verborgene Zellen im Gewebe der Stadt. Einmannschreibstuben. Alberto Giacometti im Atelier wiederum, drüben in Montparnasse, der am Morgen vor einem Klumpen Ton stand, der am Abend ein Figürchen geworden war, das in einer Streichholzschachtel Platz fand.

      Wild selbst hatte einmal ein kleines Buch in einem solchen Zimmerchen, einer Mansarde, vorwärts gebracht und zu Ende geschrieben. Der Winter hatte mit schrägem Wind dünnen Schnee auf die Dächer gelegt, auf die er durch seine Luke hinaussah.

      Ein Tisch, ein Stuhl, eine Lampe.

      Ein Expansionsgefäß brachte bollernd den lauwarmen Rest der zentralen Hausheizung in die Kammer. Dem Leib konnte man mit einem Pullover helfen, die Füße blieben kalt. Über den Flur gab es eine Toilette mit einem schmalen, halbrunden Lavabo aus Email und einer Kloschüssel, in der das immerfort rinnende Wasser über die Jahrzehnte gelbe Kalkschlieren hinterlassen hatte. Jemand hatte einen riesigen Vorrat an Toilettenpapier auf der Fensterluke deponiert. Das war das einzige Lebenszeichen aus der Welt der anderen, das Wild während der Wochen unter dem Dach bemerkte.

      In seiner Kammer beugte er sich über die Blätter. Schrittweise, Wort auf Wort, ging die Arbeit voran. Wenn etwas geschafft war, zog er den Wintermantel über, schloss mit großem Schlüssel die Kammer hinter sich und stieg die Holztreppen das leere Treppenhaus hinunter, an den Stockwerken vorbei, hinter deren mit geätztem Glas versehenen Tür Unbekannte an ihrer Arbeit waren. Die Haustür fiel mit zustimmendem Klatschen hinter ihm ins Schloss.

      Er sei nicht alt, hatte die Ärztin eindringlich zu Wild gesagt, als müsste sie ihn gegen eine andere Einsicht überzeugen. Er saß ihr an ihrem Ärzteschreibtisch gegenüber. Das buntfarbige Modell eines Herzens mit seinen verschlungenen Gefäßen stand neben seinem zur Blutdruckmessung aufgelegten Arm. Die eben durchgeführte Untersuchung, das Belastungs-EKG und die Werte seiner Blutanalyse schienen befriedigend.

      Einen Blutdruck haben Sie wie ein Konfirmand!

      Was ist alt?

      Ist alt, wenn man sich am Morgen zerschlagen fühlt und sich daran erinnert, dass man früher einmal, wie lange ist das schon her?, mit Vergnügen aufgestanden ist? Oder auch umgekehrt: damals noch ausschlafen konnte?

      Wann wird eben noch zu damals?

      Später einmal auf einer Zugfahrt, als Wild lange genug aus dem Fenster gesehen hatte, nahm er einen Zettel und machte eine Liste. Er hatte immer gern Listen gemacht. «Alterszeichen» schrieb er, darunter «Ungefragte Antworten».

      «Zum Arzt gehen und sich gegen besseres Wissen darüber freuen, gesundgeschrieben zu sein / Träume vom Zerfall / Sich im Traum nicht an ein Gesicht erinnern können und auch beim Aufwachen nicht dazu fähig sein / Immer müde / Nie mehr nach China wollen (resp. müssen; können schon) / Schlafmittel, Schlaflosigkeit / Desinteresse am Interesse / Schmerzen, wandernd am ganzen Körper, wie Zugvögel, die einen Winterplatz suchen / Briefe werden nicht mehr beantwortet / Freunde verschwinden, ohne zu sterben / Sexträume bei dauerhafter Sexabsenz / Autofahren aufgeben wollen und nicht aufgeben / Keine neuen Leute kennenlernen wollen / Lebens-Bilanzen (solche Listen) / Zunehmend Tote um sich / Eisenbahn: Wechsel in die Erste Klasse / Immer bessere Rotweine / Ärzte nun alle jünger als der Patient / Jüngere Freunde / Hautflecken, Hände und Gesicht; Warzen, Muttermale, Basalzellkarzinome, Plattenepithelkarzinome; Gesäßfalten; Nagelpilz / Die Frage ‹Was ist alt?› / Die Welt vorstellbar ohne mein Ich / Dankbar sein / Ordnung machen ohne Notwendigkeit / Häufiger Gebrauch des Worts «hinterlassen» / Nachts pinkeln müssen / Zärtlichkeit für Tiere / zunehmend Erinnerungen an die Eltern / Waldspaziergänge zunehmend / Angst.»

      Wild war zehn Jahre älter, als Hemingway gewesen war, als er sich die Kugel in den Kopf geschossen hatte. Aber Wild wollte nicht aufhören. Es war nicht genug gewesen. Noch nicht, noch lange nicht.

      He da, Contrescarpe, mir gehörst du jetzt! Die Bäume reckten die ausladenden Äste über die Sitzbänke.

      Warum übernahm er nicht Borbakis’ Idee? Warum sollte nicht er sich für Hemingway interessieren? Warum nicht sich an Joyce erinnern? An Stein und Toklas? An Pound, Ford Madox Ford, an Anderson, Scott Fitzgerald. Und Hadley? Und Zelda? An eine andere Zeit denken?

      Älter werden als Chance. Sogar Herausforderung. Wild sah auf die altmodische Normaluhr zu seiner Rechten, es war zwanzig nach zehn.

      Als der Garçon vorbeikam, ein junger Typ in Cashmerepulli und Jeans, kein schwarzes Gilet und lange, weiße Schürze, bestellte er ein Bier. Un demi, une bière pression, s’il vous plaît. Vögel bewegten mit ihrem hastigen Hin und Her die violetten Blütenzweige mit den runden Blättern. Judasbaum, jetzt war Wild sicher. War das nun dasselbe

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