Grenze als Erfahrung und Diskurs. Группа авторов

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betont: „An der unübertretbaren Grenze / Müde der Verfolgung, legte er sich nieder / Nicht mehr aus dem Schlaf erwachte er“.12

      VI. Laotses Grenzgang

      Brechts wohl bedeutendste literarische Auseinandersetzung mit dem Motiv des Grenzübertritts ins Exil ist die knappe, auf dreizehn Strophen belaufende Legende von der Entstehung des Buches Taoteking auf dem Weg des Laotse in die Emigration.1 Brecht hatte bereits 1920 den taoistischen Philosophen kennengelernt, „und der stimmt mit mir so sehr überein, daß er immerfort staunt“.2 Fast zwanzig Jahre später und nun seit über fünf Jahren im dänischen Exil widmet er dem pazifistischen Lehrmeister ein Gedicht, dessen unmittelbarer Gegenwartsbezug hervorsticht, das aber gleichzeitig die Verbannung im „wieder einmal“ als transhistorisches Schicksal darstellt: der Siebzigjährige sieht sich gezwungen, seine Heimat zu verlassen, „Denn die Güte war im Lande wieder einmal schwächlich / Und die Bosheit nahm an Kräften wieder einmal zu“.3 Das Brecht’sche Exilgebot „Habe nichts“ spiegelt sich in Laotses Grenzgang wider, dessen „Pfeife, die er immer abends rauchte“ stilisierend den Bezug zur eigenen Flucht ins Exil herstellt. Auch hier erweist sich die Grenzüberquerung als Schwellenereignis, das den Grenzgänger herausfordert und ihn zur Stellungnahme auffordert.

      Den Dialog mit der Grenze ermöglicht der Zöllner, dessen Aufgabe es ist, in Erfahrung zu bringen, ob „Kostbarkeiten zu verzollen“sind.4 Die Weisheit des Alten, wenn auch kostbar, lässt sich nicht ohne weiteres verdinglichen, doch die Frage des Zöllners gebietet eine Antwort, und so steigt Laotse von seinem Ochsen und erstellt in sieben Tagen, zusammen mit seinem Knaben, die einundachtzig Sprüche, aus denen das Tao Te King, das Buch vom Sinn und Leben, besteht. Wäre da nicht der Zöllner gewesen, hätte es die Grenze nicht gegeben, so hätte der Anreiz zum Niederschreiben der Weisheit gefehlt. Die Grenzüberschreitung hat eine auslösende Kraft und fungiert gleichsam als geburtshelferisches Instrument, dem Rechnung zu tragen ist und Achtung gebührt:

      Aber rühmen wir nicht nur den Weisen

      Dessen Name auf dem Buche prangt!

      Denn man muß dem Weisen seine Weisheit erst entreißen.

      Darum sei der Zöllner auch bedankt:

      Er hat sie ihm abverlangt.5

      Die Grenze fordert das Gedankliche an den Tag, macht das Abstrakte konkret und übt im Entreißen und Abverlangen eine produktive Gewalt aus. Die Grenze bewegt, stimmt zur Besinnung und verleiht dieser auch eine Form. „Schreib mirʼs auf!“, ruft der Zöllner. „So was nimmt man doch nicht mit sich fort“.6

      Der Exilant ist letztendlich der ultimative Grenzgänger, dessen Grenzerfahrungen lebendig bleiben und immer wieder nach Ausdruck verlangen. Die Grenze reizt zur dauerhaften kritischen Auseinandersetzung, zur krisenbewussten Kritik im Sinne Liessmanns, und wird so zum Wesensmerkmal des Exils. Vor dem Exil liegt die Grenze, doch trägt der Exilant die Grenze auch mit sich in die Verbannung. „Die Grenzpfähle“, so lautet ein 1938 entstandenes Gedichtfragment von Brecht, „Sind zum Herumtragen. / Die da schweigen zu den Schreien der Gequälten / Werden selber schreien und nicht gehört werden“.7

      Der „Grenzübertritt“ im Werk Heinrich Manns

      Polysemantik und Deutungsperspektiven

      Hermann Gätje, Saarbrücken

      Heinrich Mann gilt als Schriftsteller der Widersprüche und Spannungen, die Meinungen über ihn klaffen auseinander. Kaum ein Autor der deutschen Literatur polarisiert in dieser Weise. Das Spektrum der Urteile über sein Werk ruft das Bild eines Grenzgängers zwischen Kunst und Kitsch hervor. Einige Romane von ihm gelten als Meisterwerke, andere werden als Kolportage abgetan. In der Summe seiner politischen Aktivitäten und Positionierungen lassen sich einerseits humane Überzeugungen, frühe und kluge Einsicht in manche fatale Entwicklungen und andererseits verblendete Fehleinschätzungen sowie irrationales Wunschdenken pointiert gegenüberstellen. Heinrich Mann hat persönlich und in seinen Werken Grenzen zwischen den Nationen und Kulturen, zwischen den sozialen Klassen überschritten und thematisiert. Schon daher liegt es nahe, sein Schaffen und Wirken mit dem Begriff des „Grenzübertritts“ sinnbildlich zu charakterisieren. Zugleich hat er als Autor des Exils zahlreiche tatsächliche Grenzübertritte vollziehen müssen, die für ihn existenzielle Bedeutung hatten und die er in seinen Texten reflektiert hat.

      Es überrascht daher kaum, dass vom Begriff „Grenze“ abgeleitete Topoi in der Literatur zu Heinrich Mann häufig auftauchen. Die Charakterisierung als Grenzgänger findet sich in Bezug auf zahlreiche Aspekte seiner Persönlichkeit. Doerte Bischoff sieht ihn und seinen Bruder Thomas als „Grenz-Gänger eines Europa-Diskurses“,1 Marcel Reich-Ranicki formuliert, dass Gottfried Benn Heinrich Manns Romantrilogie Die Göttinnen „als etwas gänzlich Neuartiges“ ansah, „einen Vorstoß, der weit über die Grenzen der am Anfang des Jahrhunderts dominierenden erzählenden Prosa (etwa vom ‚Stechlin‘ bis zu den ‚Buddenbrooks‘ von Paul Heyse bis zu Ricarda Huch und Eduard von Keyserling, Emil Strauss und Hermann Hesse) führe und somit den Bereich der Literatur kühn und kraftvoll ausdehne.“2 Reich-Ranicki selbst hingegen attestiert den Göttinnen Nähe zur Trivialliteratur, und da er nur ein paar Zeilen nach der eben zitierten Stelle in seinen Ausführungen schreibt, Heinrich Mann „haperte“ es an „Geschmack“,3 evoziert er unweigerlich die Wortassoziation, dass Heinrich Mann die Grenzen des guten Geschmacks häufig überschritten habe.

      Gemäß der Thematik „Grenze als Erfahrung und Diskurs“ möchte ich im Folgenden die persönliche Erfahrung des Grenzübertritts bei Heinrich Mann mit dem Topos der „Grenze“ in seinem literarischen Schaffen im Hinblick auf seine zahlreichen Bedeutungsimplikationen in Beziehung setzen. Anhand von Textstellen aus verschiedenen Schaffensphasen soll exemplifiziert werden, dass in seinem Werk die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Grenze“ in den unterschiedlichsten Facetten auftauchen und sich dabei strukturelle Zusammenhänge aufzeigen lassen.

      Inspiration und Ausgangspunkt meiner Ausführungen ist die Schilderung der Flucht über die Pyrenäen in seiner Autobiografie Ein Zeitalter wird besichtigt, die 1946 erstmals erschien. Die Textpassage ist eine Schlüsselszene in seiner Lebensbeschreibung und lässt sich sinnbildlich für seinen Lebensweg und seine Persönlichkeit deuten.

      Mann beschreibt ausführlich den wagemutigen Fußweg über die Pyrenäen von Frankreich nach Spanien im Jahr 1940. Im autobiografischen Rückblick rekurriert er auf seine Kindheit, parallelisiert das Geschehen sinnbildlich einerseits als wiederkehrendes Muster seines Lebensnarrativs, als neuen Aufbruch, andererseits stellt er das Bedrohliche, Abweichende dieses Ereignisses heraus, indem er diese Flucht mit Bergwanderungen der Jugend kontrastiert:

      Den frischen Wind dieses Morgens fühle ich noch. So kann ich die Luft verschiedener, sehr verschiedener Morgenstunden zurückrufen, wenn ich einst aufbrach und hatte vor Freude nicht geschlafen, oder vor Unruhe nicht, vor Sehnsucht. Oder ich war wundervoll ausgeruht, weil nur das Vertrauenswürdige bevorstand, ein grüner Berg, zweitausend Meter hoch. […] Der kalte Hauch meines Aufbruchs von Marseille befremdete eigentümlich. Ohne weiter zu insistieren, brachte er Nachricht aus künftigen Tagen, die nichts mehr von Belang zu melden hatten.4

      Der mehrdeutige Kapiteltitel Über den Berg versinnbildlicht den Berg als Grenze und wirft die Frage auf, ob es im Werk Heinrich Manns raumsemantische Konstanten gibt, also Textstellen, in denen geografische Entitäten wie Berge oder auch Gewässer wie Meere, Flüsse, Seen Grenzen darstellen bzw. symbolisieren und Analogien zu der Textpassage aus seiner Autobiografie aufweisen. Die Rolle des Meeres in seinem Werk wurde von der Forschung bereits hervorgehoben, auch in dieser Passage erscheint es: „Wir ergingen uns am Meeresstrand, zehn Uhr vormittags, in der Meinung bis übermorgen hierzubleiben.“5

      Die

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