Grenze als Erfahrung und Diskurs. Группа авторов

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Hilfe seiner Frau und seines Neffen Golo bewältigen. In der Reflexion über diesen nimmt er Bezug auf das Verhältnis der älteren zur jüngeren Generation und verknüpft den Grenzübertritt mit lebensphilosophischen Überlegungen. Die „Dornen“ auf den Pfaden verweisen nicht nur auf das unwirtliche Gelände, sie stehen in ihrer christlichen Symbolik für den Lebens- und Leidensweg des Exilanten.

      Ich erging mich auf meinem Dornenweg noch immer wie Gott in Frankreich. Ob ich die Grenze des anderen Landes in zwei Stunden oder nie mehr überschritt, ich durfte es dem Lauf der Welt anvertrauen.6

      In dieser Szene lässt sich die Polysemantik der Grenze im Chronotopos der Flucht über den Berg fassen. Einerseits schildert Mann einen tatsächlichen Grenzübertritt, andererseits verweist er auf die Aufbrüche seiner Jugend. Letztere versinnbildlichen im autobiografischen Kontext die eigenen Anfänge und Lebensziele als Mensch, Schriftsteller und Politiker, den Ausbruch aus bürgerlichen Konventionen, den Einsatz für die Republik, den Kampf gegen den Nationalsozialismus. So liegt es nahe, auch das Lebensmotto Manns als permanenten Aufbruch zu Grenzüberschreitungen zu begreifen. Doch die geschilderte Grenzüberschreitung von 1940 gelingt ihm nur noch mit letzter Kraft. Die Flucht aus Europa vor Hitler wird angesichts der militärischen Erfolge des Deutschen Reichs in einem resignativen Gestus erzählt, der durch die Reflexion über die Gebrechlichkeit des Alters unterstrichen wird.

      Analogien zu dieser Textstelle finden sich in der frühen Romantrilogie Die Göttinnen, die Ende 1902 erschien. Die Protagonistin, die dalmatinische Herzogin von Assy, drängt wie der junge Heinrich Mann nach Taten und politischer Umwälzung. Sie zettelt eine politische Revolte an und muss über das Meer nach Italien fliehen:

      Noch in der Nacht sollte der Staatsstreich geschehen; stattdessen fand die Nacht sie, mit Mühe der Verhaftung entgangen, weit draußen im Meer.

      Ihr Tag hatte im Harem begonnen und in einer Volksrede gegipfelt; sie beschloß ihn auf dem Hinterdeck einer schwerfälligen Segelbarke, allein und flüchtig.7

      Die Beschreibung der Fahrt übers Meer weist Ähnlichkeiten mit der Überwindung des Berges in der Autobiografie auf. Einerseits eröffnet das Meer den Weg der Flucht, andererseits birgt es Gefahren, die bewältigt werden müssen. Während der Überfahrt geht der Sohn des Begleiters der Herzogin Pavic spurlos über Bord. Die Bedrohlichkeit der See wird bildlich veranschaulicht:

      Einmal, als sie die Augen öffnete, hatte das Meer die Finsternis durchbrochen, von der es gebannt gehalten war. Eine graue Schlange, krümmte es sich um sie her und wollte sie ersticken.8

      Wie Heinrich Mann in der Autobiografie ruft die Herzogin während der Überfahrt das Vergangene zurück und zieht die Bilanz ihrer politischen Aktivitäten:

      ‚Wo die Sonne aufgeht, liegt das Land, das ich verlassen habe. […]‘9

      ‚Gestern abend beim Einsteigen habe ich noch gelacht. […] Ich weiß nicht einmal, ob ich Feste gab, um eine Revolution anzuzetteln, oder ob ich durch Verschwörung und Umsturz meine Geselligkeit beleben wollte. […]‘10

      „Über Schönheit und Stärke ein Reich der Freiheit aufzurichten: welch ein Traum!“11

      Die Überfahrt glückt schließlich:

      In der Dunkelheit begegneten sie heimkehrenden Fischerbooten. Und endlich landeten sie.

      „[…] in die Stadt dürfen wir uns nicht getrauen.“

      „Warum nicht?“ meinte sie.

      „Hoheit, wir sind politische Flüchtlinge.“

      Sie standen ratlos am Strande. […]

      Sie wanderten an einer Dorfmauer hin; es war ein Passionsweg darauf gemalt.12

      Die Erwähnung des Passionswegs kann hier ähnlich interpretiert werden wie die Dornen in der Schilderung der Überquerung des Berges in der Autobiografie.

      Die Flucht übers Meer und der symbolistische Schluss der Roman-Trilogie Die Göttinnen sind sinnhaft miteinander verknüpft. Das Sterben der Herzogin wird unterlegt von einem Bild, mit dem der Maler Jakobus ihren Tod antizipiert und künstlerisch stilisiert, eindeutig eine Anspielung auf Arnold Böcklins Gemälde Die Toteninsel:

      Und in der weißen Helle, sah die Herzogin in das plötzlich entschleierte Bild ihrer letzten Verwandlung.

      Sie stand im hohen Kahn auf dem Nebelmeer, die Brust flach unter dem fahl gleißenden Panzer, schwarzes Haar am Rande des Helmes, der matt herausschien aus Wolken, und die müde, blasse Hand auf den Schwertknauf gestreckt. Sie war die Jungfrau, die, von allen Gewalten des heißen Lebens verwüstet, im Glanze einer anderen, unangreifbaren Reinheit von dannen fuhr.

      Ihr Maler hatte mehr gemalt als ihr Sein und ihr Vergehen. Aus diesem weißen Gesicht, das kühl erhoben über das Leben hinwegsah, grüßten im Verscheiden die großen Träume von Jahrhunderten.13

      Die Überschreitung der Grenze zwischen Leben und Tod spielt auch in der 1905 entstandenen Novelle Heldin aus der Sammlung Stürmische Morgen eine zentrale Rolle. Der Text greift wie viele andere Werke des Schriftstellers den kulturellen Gegensatz zwischen nördlich-germanischem und südlich-romanischem Temperament auf. Die Handlung spielt in einer Stadt an einem See in Italien, der unmittelbar die Grenze zum Norden bildet. Der Ort bleibt ungenannt und ist daher als typologische Stilisierung, als Sinnbild der Grenze zu verstehen. Es wird auf die Nähe des Sees zur anderen Seite verwiesen:

      „Sehen Sie, Fräulein Lina, am Ende dieser engen, wimmelnden Gasse den Turm, den stillen grauen Wachtturm am Hafen? Seit tausend Jahren steht er dort: hinter sich die Stadt, vor sich den See in seinen blauen Luftschleiern, worin der Umriß des Gebirges sich verstrickt, aus denen sonst, wie aus der Ewigkeit, Feinde auftauchten, und in die sie, abgeschlagen, zurücksanken. Wie viele Geschlechter haben dem alten Wachtturm ihr Heil verdankt. […]“14

      Die Novelle unterlegt eine tragisch endende Dreiecksgeschichte zwischen den einheimischen Mädchen Grete und Lina, die unterschiedliche Frauentypen verkörpern, und dem deutschen Studenten Roland. Am Schluss steht der Selbstmord der sensiblen Lina. Der Handlungsort ist von seiner Grenznähe geprägt, „Lastträger, Zolleute, Schiffer“ bestimmen das Stadtbild, „die Finanzwache zerrte einen Schmuggler aus seiner Kajüte hervor“.15 Das hier im Zusammenhang mit der Grenze angesprochene Gebirge weist motivische Ähnlichkeiten zu den Pyrenäen in Ein Zeitalter wird besichtigt auf. Auch ein Gewässer, hier der See, stellt eine Grenze dar. Die Kulisse des Ortes, seine Grenznähe ist in der Komposition nicht zufällig:

      Der Scheinwerfer, der die Ufer des Sees nach Schmugglern durchsuchte, schoß von Zeit zu Zeit sein grellweißes Licht durch den Garten. Einmal verweilte es auf Lina; und sie legte die Augen in die Hand und fühlte ihr Gesicht noch heißer werden.

      […]

      Wie sie sich geborgen fühlte in der dunklen Flut, unter dem dunklen Himmel.

      […]

      Da machte der Strahl des Scheinwerfers eine jähe Wendung und traf grell die Badehütte.16

      Das Licht enthüllt ein Stelldichein von Grete und Roland, was auslösendes Moment für Linas Freitod wird.

      Ein wesentliches Thema in Heinrich Manns Werk ist die Frage der Grenzüberschreitung im Hinblick auf soziale Klassen und Normen. Cheng Hui-Chun überträgt Lotmanns Raummodell und seinen Grenzbegriff auf den Aufsteigerroman Im Schlaraffenland von 1900:

      Im

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