Grenze als Erfahrung und Diskurs. Группа авторов

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verursachten Flüchtlingsproblematik, insbesondere der kontroversiellen Frage der Displaced Persons, reagierte nun die Kritik […] sehr gemischt.“21 Während die österreichischen Kommunisten von „Mitleidspropaganda für Vertriebene“ sprachen,22 beeindruckte den Rezensenten der Arbeiter-Zeitung Otto Koenig die „durch die Ereignisse […] unheimlich aktualisierte Posse.“23

      Dieser zeitgenössische politische Kontext von Auffanglagern für Displaced Persons bildete auch den Hintergrund der einzigen Verfilmung von Horváths Stück aus dem Jahr 1947.24 Der mit Horváth seit gemeinsamen Filmarbeiten 1934 bekannte Schauspieler und Regisseur Theo Lingen transponierte Plot und Motiv auf eine Weise, die mit dem Herr-und-Diener-Motiv, Verwechslungen und Doppelrollen und der romantischen Liebe von Königskindern feindlicher Phantasiestaaten an Georg Büchners Lustspiel Leonce und Lena (1836) erinnert. Zugleich politisierte Lingen in HIN UND HER den Stoff auf satirische Weise: Gleichermaßen korrupt und autokratisch, unterscheidet sich die Monarchie Lappalien nicht von der Republik Bagatello, deren feudale Herrschaftsarchitektur im einen Fall alpenländisch dekoriert und im anderen Fall im Stil der Mussolinischen Moderne überformt ist. Beide Regierungen verfolgen jeden Oppositionsgeist, für ihre Vorstellung vom idealen Untertan blendet der Film eine Kuh- bzw. Schafsherde ein. Musikkapellen übertönen öffentliche politische Rede, das ist „ein altes Rezept“.25 Aus Horváths Protagonisten Havlicek wird der (von Theo Lingen gespielte) politisch verdächtige Fotograf Peter Vogel, dem man, der Republik verwiesen, die Einreise in seine Heimat Lappalien verweigert. Eine Künstlerfigur mit einem „romantischen Schicksal“,26 führt der Staaten- und Heimatlose eine Bohème-Existenz, er will sich „nicht als Lappalie behandeln und auch nicht bagatellisieren“ lassen,27 er lebt „in einem selbst gezimmerten Häuschen unterhalb der Brücke auf eigenem Hoheitsgebiet und somit exterritorial. Er ist verfolgt und geduldet zugleich.“28 Nicht Liebe und nicht – verhinderte – Attentate, sondern die dramaturgische deus ex machina-Figur eines plötzlich geerbten Vermögens scheint den Konflikt zu lösen, denn nun wird der Protagonist „von beiden Staaten als Steuerzahler begehrt.“29 Die Lösung wird aber in einem Aus-Weg gefunden, den Horváths Stück nicht erwägt: Dem in der Schlusseinstellung von einer Eulenspiegel-Figur, seinem alter ego, geratenen „Gib’s auf, Peter, fang neu an“ folgt die Hauptfigur und fährt mit einem Motorboot davon. „Wohin? […] Dahin, wo mir das nicht passieren kann, was mir hier passiert ist.“30

      Erstmals ein größeres Publikum findet Hin und her im Rahmen der Wiener Festwochen 1960, die bundesdeutsche Erstaufführung bringt das Hessische Staatstheater Wiesbaden 1965 heraus. Beide Male setzen sich Text und Inszenierung dem Vorwurf der politischen und ästhetischen „Verharmlosung“ aus im Kontext der innerdeutschen Grenze31 und im Kontext eines sich herausschälenden Gegenwartstheaters, zu dem es nicht passe, „im Grenzübergang einen Operettenstoff zu sehen.“32

      Die Wiener Schriftstellerin Hazel Rosenstrauch hat anlässlich der Verleihung des Theodor Kramer Preises im September 2015 gefragt, „wie man die Gedanken und Gefühle der Exilautoren von damals aus der Büchse holen [kann], damit sie auch die Gegenwart beleuchten und womöglich Unruhe stiften können?“33 Vor dem ‚Wie‘ theatraler Versuche der Gegenwart aber sollte deutlicher werden, was Hin und her dafür anbietet:

      Der Plot ist inzwischen hinreichend deutlich geworden: Aufgrund fehlender Papiere aus dem einen Staat ausgewiesen und in den anderen nicht hineingelassen, bewegt sich der alleinstehende, bankrotte und „heimatlose“ Ferdinand Havlicek auf der die beiden Staaten trennenden bzw. verbindenden Brücke über den Grenzfluss „hin und her“, bis er am Ende aufgrund positiver Wendungen im Besitz einer Einreiseerlaubnis ist und eine Zukunft als Ehemann und Gastwirt hat. Der Titel stellt den Bewegungscharakter der Handlung ins Zentrum, ein die Gattung Komödie konstituierendes dynamisches szenisches Spiel, das in allen Spielarten dramatische Aktion aus ihrer physischen Dimension gewinnt. Tragisch gewendet als begrenzte Bewegung einer physisch beschädigten Figur, die als „Krüppel“ allenfalls „hin und her“ gehen kann, hat sie in Horváths frühem Stück Niemand (1924) eine leitmotivische Funktion. Von der Sehnsucht ihrer Überwindung geprägt, korrespondieren hier die physisch und räumlich begrenzte Bewegung und die metaphysischen Bewegungen der psychologischen Unruhe und der philosophischen Reflexion auf Schicksal und Determination.34 Wie das Treppenhaus in Niemand fokussiert der Schauplatz von Hin und her die Brücke als „Nicht-Ort“,35 als Zwischen- und Aufenthaltsraum. Die Brücke und die sie links und rechts begrenzenden Brückenköpfe machen den Gegensatz von Grenzraum und Grenze, wie ihn Norbert Wokart definiert hat, sinnfällig:

      Ein Grenzraum selber ist keine Grenze, vielmehr hat er Grenzen, zwischen denen sich Sachverhalte überlappen und durchdringen. Er wirkt dadurch wie ein Rand; denn Ränder sind diffus und fransen leicht aus, und man weiß bei ihnen nicht immer ganz exakt, ob man noch bei diesem oder schon bei jenem ist. Dagegen bezeichnet eine Grenze immer einen harten und eindeutigen Schnitt.36

      In der Dynamik des Grenzraums, der sich nicht mit geopolitischen Markierungen deckt, etabliert sich historisch wie literarisch der so genannte Kleine Grenzverkehr.37 Die Brückenköpfe, an denen in Horváths Stück die beiden Grenzorgane ihres Amtes walten und die einer „Baracke“ bzw. einer „halbverfallenen Ritterburg“ gleichen, liegen „etwas abseits“ in einer idyllischen Gegend mit „schöne[n] Wolken“.38 Die hinter den Brückenköpfen liegenden Staaten sind wie ihre Regierungsrepräsentanten namenlos und zeitenthoben. Die unspezifische und reduzierte Eigenart von Zeit und Raum hebt den experimentellen Charakter des Spiels hervor. Die Zuschauer beobachten im übersichtlichen Rahmen der aristotelischen Einheit von Ort, Zeit und Handlung einen Fall, den der Protagonist selber „interessant“ findet und verfolgt.39 Das Thema des Stückes – Heimat- und Staatenlosigkeit – verknüpft individuelle, subjektive und kollektive, politische Identität ex negativo und wird durch das – exil- bzw. migrationsrelevante – Motiv des ‚fehlenden Ausweis‘ konkretisiert. Der verlangte „Grenzschein“40 bedingt die „Rede- und Handlungsabläufe des ganzen Stücks“.41 Am Ende erhält der Protagonist keinen regulären Pass, der das Pendant des ‚fehlenden Ausweis‘ wäre, sondern ihm öffnet sich aufgrund einer „außertourliche[n] und außerinstanzliche[n] ministerielle[n] Verfügung“ die Grenze.42 Die einmalige Einreiseerlaubnis verdankt er einer „menschlichen Tat“ des Regierungschefs, sie ist kein politischer, sondern ein humaner Akt.43 Weitere Motive dramatisieren den identitätsphilosophisch-politischen Kern des Stücks: Das Motiv der Grenze hat eine räumliche Dimension, die die Unterscheidung von „dort“ und „hier“ markiert, eine normative Dimension für die Konstruktion Staat durch Gesetz, von dem abzuweichen „unmöglich“44 ist und dem das Individuum unterworfen ist: „(Konstantin) Gesetz ist Gesetz. / (Ferdinand Havlicek) Aber solche Gesetze sind doch unmenschlich … / (Konstantin) Im allgemeinen Staatengetriebe wird gar oft ein persönliches Schicksal zerrieben. / (Havlicek) Schad.“45 Die identifikatorische Dimension der Grenze im Sinne der Abgrenzung wirkt im sozialen Gefüge von (Nicht)Zugehörigkeit, von aufgewertetem „wir“ und abgewerteten „Feinde[n]“46 und ist paradox, „da sich der Mensch ihrer [der Identität, H.K.] nicht anders versichern kann als im Rückgriff auf andere“:47 Das Grenzorgan Thomas Szamek hält in der ersten Szene fest, „daß wir da aufhören und dort drüben ein anderer Staat beginnt“.48 Position und Person und Tat treten im Handlungsverlauf auseinander: Das Grenzorgan Konstantin nennt die Grenze eine „blöde Grenz“49 und „privat“ tue ihm der Staatenlose leid. Der mächtige, aber nicht betroffene Regierungschef nennt die Grenze eine „Plage“:50 „(X) Wir leiden unter unseren Grenzen.“51 Im „Finale mit Gesang“,52 einem langen musikalischen Epilog, wird nicht etwa die Grenze, sondern ihr Begriff semantisch geöffnet,53 die Figuren reflektieren Grenze als Begrenzung, sie übertragen die Begrenztheit des Lebens auf die notwendige Zügelung der Triebnatur, die sozial sinnvolle Einschränkung der Handlungs- und Bewegungsfreiheit. Sie stimmen – im doppelten Sinn – ein in Grenze als Natur, als Kultur, als Ordnung und damit als Glück. Der aufbegehrende Protagonist passt sich an: „(Havlicek) Ich seh schon ein, daß es muß geben / Gar manche Grenz, damit wir leben.“54

      Von der normativen Dimension der ‚Grenze‘ unterscheidet sich die formelle Dimension des Motivs Heimat dann, wenn sie als Geburtsort aufgefasst wird – „(Mrschitzka,

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