Grenze als Erfahrung und Diskurs. Группа авторов

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Erzählung, welche klassifikatorische Barrieren leicht überschreiten kann. Er ist Grenzgänger zwischen der „feinen Gesellschaft“ des Romans und seiner eigenen sozialen Situation. Andreas Zumsee ändert seinen Stand – zuerst infolge der Regie von Köpf und danach auf Anweisung von anderen Schlaraffianern – und steigt von einem besitzlosen Studenten zu einem Mitglied des Schlaraffenlands auf.17

      In Professor Unrat (1904) finden sich einige explizite Erwähnungen des Begriffs Grenze, die das Exzessive des Romans als „Grenzübertritte“ in mehrfacher Bedeutung signalisieren:

      Da ging Unrat unter in der schwindelnden Panik des Tyrannen, der den Pöbel im Palast und alles verloren sieht. In diesem Augenblick war ihm jede Gewalttat recht, er kannte kaum noch Grenzen.18

      Aber er konnte sie [die Schüler] nicht zwingen, schön zu finden, was nach seinem Ermessen und Gebot schön war. Hier war vielleicht die letzte Zuflucht ihrer Widersetzlichkeit. Unrats despotischer Trieb stieß hier auf die äußerste Grenze menschlicher Beugungsfähigkeit … Er ertrug es kaum.19

      Die Furcht vor ihrem Treiben [der Schüler] ließ ihm allmählich das Äußerste tunlich und alle zwischen den Menschen gesetzten Grenzen überschreitbar erscheinen.20

      Die Frage nach der Überschreitung der „Grenzen des moralisch Zulässigen“ steht im Zentrum einer Gerichtsverhandlung.21

      In dem Roman Ein ernstes Leben von 1932, der in Teilen auf die Biografie seiner Freundin und späteren Frau Nelly Kröger zurückgreift, schwingt die soziale Mobilität und der Wunsch nach dem Ausbruch aus bescheidenen Verhältnissen mit; ebenso impliziert die Kriminalhandlung die Überschreitung von sozialen Normen. Der oben skizzierte Bedeutungskontext des Meeres als Grenze lässt sich hier mit der Bedeutung der Grenze im Hinblick auf soziale Klassen und Normen in Beziehung setzen. Die Hauptfigur Marie wächst unter einfachsten Verhältnissen in einem Ort an der Ostsee auf, das Meer symbolisiert in dem Roman Begrenzung, Bedrohung durch die Flut (das Elternhaus wird zerstört) und zugleich den Wunsch nach Flucht und Ausbruch aus den Verhältnissen. Als Marie durch ein wohlhabendes Haus, in dem sie arbeiten soll, geführt wird, heißt es: „Dort aber hing eine Erdkarte, mit allen Meeren – einzig ihretwegen blieb Marie stehen. ‚Was machen Sie denn?‘ fragte Lissie ausnahmsweise verwundert. ‚Ich zeige Ihnen eine ganz große Klasse nach der andern, und hier kieken Sie!‘“22 Der sinnbildliche Charakter dieser Stelle ergibt sich in der Romanhandlung daraus, dass Maries Freund Mingo auf See ist, um vor Strafverfolgung zu fliehen. Als Marie das Haus endgültig verlässt, denkt sie: „Ich gehe noch einmal in das Pingpongzimmer, zu der Karte mit den Weltmeeren.“23 Der Roman zeigt die verschiedenen Bedeutungen des Meeres als Grenze auf: es kann Begrenzung, Bedrohung und zugleich Flucht- und Rettungsweg sein.

      Auch wenn der Roman auf Nelly Krögers Herkommen aus einem Ort an der Ostsee Bezug nimmt, ist es im Kontext der Bedeutung des Meeres als Grenze wichtig, auf Heinrich Manns Herkunft aus der Seestadt Lübeck zu verweisen, die gewiss nicht ohne Einfluss auf diese Bildlichkeit gewesen ist.

      Die Affinität des Schriftstellers zu Italien und Frankreich verleiht seinem Werk eine weitere Nuance der Grenzüberschreitung. Bereits seine frühen Texte kontrastieren südliche Lebensart und Temperament mit dem nördlichen, deutschen Wesen und Charakter. Dieses Moment wurde in den Ausführungen zur Novelle Heldin bereits erwähnt und trägt konzeptionell den Italien-Roman Zwischen den Rassen (1907), in dem sich eindeutige Bezüge zu seinen brasilianischen Wurzeln mütterlicherseits finden. Mit der französischen Literatur hat er sich in zahlreichen Essays beschäftigt. Die Texte der 1931 erschienenen Sammlung Geist und Tat sind von dem Ideal getragen, die Grenze zwischen Denken und sozialer bzw. politischer Wirkmächtigkeit aufzulösen. In französischen Autoren wie Zola, Flaubert oder Anatole France, ihrem Engagement und ihrer Rezeption, sah Mann diese Synthese nahezu idealtypisch verwirklicht.

      Dieser zentrale Ansatz sowie seine Liebe zu Frankreich und südlicher Lebensart finden Ausdruck in seinem opus magnum, den beiden voluminösen Romanen (Die Jugend des Königs Henri Quatre, 1935; Die Vollendung des Königs Henri Quatre, 1938) um den französischen König Heinrich IV. Das im Exil entstandene, vielschichtige historische Epos beschwört am Beispiel des guten Königs das Ideal von „Geist und Tat“, zugleich zeigt es die Grenzen seiner Verwirklichung auf. Der Text verweist auf die Historie und spiegelt zugleich die Gegenwart, stellt fundamentale herrschaftstheoretische und -soziologische Fragen, lässt auch Lebensgefühl, Autobiografisches und Wunschdenken des Autors einfließen. Sein Bruder Thomas schrieb in einem Brief vom 2. März 1939: „Résumé Deines Lebens und Deiner Persönlichkeit.“24 Schauplatz ist das Frankreich des 16. und 17. Jahrhunderts im Zeitalter der Glaubenskriege, das Züge einer Heterotopie in der Vergangenheit trägt. In diesem Erzähl-Chronotopos wird das Leben Heinrichs IV. geschildert. Dabei stellt sich die Frage, inwieweit Grenzen in der räumlichen Strukturierung des Romans signifikant sind und welche übertragenen Bedeutungen der Begriff der Grenze im Roman annimmt.

      Als Summe des Lebens und Werks seines Autors finden sich in den beiden Romanen zahlreiche Anknüpfungspunkte und Verbindungslinien zu den hier aufgezeigten Aspekten, die in der Komplexität der Texte unterschiedliche Deutungsmöglichkeiten eröffnen. Auffallend ist, dass der Begriff der Grenze in den beiden Romanen an zentralen Textstellen wörtlich erscheint.

      Als Sohn des katholischen Königs von Navarra Anton von Bourbon und der protestantischen Jeanne d’Abret personifiziert Heinrich IV. das heikle Verhältnis der Konfessionen im damaligen Frankreich. Sein Leben ist von zahlreichen Wechseln zwischen katholischem und protestantischem Bekenntnis gezeichnet. Im Roman symbolisiert eine Szene aus der Kindheit Heinrichs antizipierend, wie er schon sehr früh in dieses Spannungsfeld gerät:

      [E]inige protestantische Herren erschienen darin und verkündeten, der Admiral Coligny sei im Hause, […]. Der König von Navarra sogar neigte den Kopf vor diesem alten Mann und damit auch vor der Partei, die er führte. […]

      Der zweite der Pastoren stimmte einen Choral an. […] Denn wo sangen sie so laut, wo behaupteten sie dreist ihre Sache? Im eigenen Hause der Könige von Frankreich! Sie konnten es wagen, sie wagten es!

      Coligny erhob mit beiden Armen den Prinzen von Navarra [Henri] über alle Köpfe, er ließ ihn dort einatmen für sein Leben, was vorging, was diese alle waren. […]

      Dies alles waren recht gefährliche Überschreitungen der erlaubten Grenzen, Jeanne sah es nachher von selbst ein, ihr Gatte brauchte sie nicht lange zu warnen.25

      Ein merkwürdiger Besucher, der sich am Schluss der Szene als der legendäre Astrologe Nostradamus entpuppt, sieht Heinrich visionär als kommenden König und Einheitsstifter:

      Dies ist ein Kind, es ist das Unerfüllte, Grenzenlose, es hat, so schwach es ist, mehr Macht und Gewalt als alle, die schon gelebt haben. Es verspricht Leben und ist daher groß. Es ist das allein Große. Welch ein tapferes Gesicht! sieht er, als Henri grade am meisten Furcht hat.

      „Er ist es!“ spricht er laut […].26

      Die von König Karl IX. angeregte, der Aussöhnung dienende Hochzeit seiner katholischen Schwester mit dem Protestanten Heinrich gerät zu einem spannungsvollen Zusammentreffen zwischen Katholiken und Hugenotten:

      [D]ie Katholiken drängten die Protestanten bis gegen die Ränder des Saales. An der unsichtbaren Grenze aber, die um die Königin gezogen war, ballten sie sich selbst zu einem Haufen, der sehr wachsam schien.27

      Henri, der die Hände frei bekam, sah sich um. Den Haufen an der unsichtbaren Grenze fand er verändert, nicht mehr nur neugierig oder wachsam.28

      Die eigentlichen geografischen Grenzen Frankreichs spielen in den Romanen auch eine Rolle, sie werden häufiger explizit erwähnt, meist im Zusammenhang mit Konflikten, Bedrohungen von außen. Ihre Nennung signalisiert

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