Grenze als Erfahrung und Diskurs. Группа авторов

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wird als guter König geschildert, charakterisiert als Überwinder hergebrachter Grenzen: „Mein Reich beginnt an der Grenze, wo die Menschen weniger dumm und nicht mehr ganz unglücklich sind. Mit Gott, erobern wir’s!“31 oder „Henri hatte niemals so viele Bettler gezählt; seine Lage machte ihn hellsichtig, die Grenze zwischen dem Übermut und Elend wurde auf einmal furchtbar schroff.“32

      Auch die Verteidigung seines Reiches impliziert mehr als die Verteidigung der Territorialität, die Mehrdeutigkeit des Begriffs der Grenze wird deutlich:

      Eine regelmäßige Mehrheit findet zusammen, sie folgt dem ungewöhnlichen König. Läßt es nicht hierbei, sondern eilt voraus. Wo er auftritt, wird gerufen: „An die Grenze!“ […] An die Grenze, um den Staat zu verteidigen, wie du ihn gemacht hast.33

      Am Ende der Vollendung, in der Ansprache des Henri Quatre, „gehalten von einer Wolke herab“, zieht der König selbst posthum – nach seinem letzten Grenzübertritt – Bilanz seines Königtums:

      Ein König, den man „groß“ genannt hat – und sicherlich ahnte man nicht, wie treffend der Ausdruck war –, gewahrt zuguterletzt den ewigen Frieden und eine Gesellschaft christlicher Prägung. Womit er die Grenzen seiner Macht und selbst seines Lebens überschreitet. Größe? Aber sie ist nicht von dieser Welt; man muss gelebt haben und dahingeschieden sein.34

      Ödön von Horváths Komödie Hin und her (1933) revisited

      Zur Aktualität literarischer Grenzerfahrung aus dem Exil

      Heike Klapdor, Berlin

      „Geh’ sein’s fesch und schreiben’s ein zeitloses Zeitstück.“1 Dazu fordert der Direktor den Dramatiker auf im ersten Akt eines Zeitstück[s] in drei Akten. Ödön von Horváth hatte dieses Dramolett Ohne Titel 1933 in einer Sondernummer der Literarischen Welt über das „Theater von heute“ publiziert. Im zweiten Akt fordern ein männlicher und ein weiblicher Star Szenen, in denen sie ihre „Limusinen“ vorfahren können, im dritten findet ein Kritiker das Stück „nicht unbegabt“, aber „zwa Limusinen […] zuviel“. Dem Dramatiker fehlen zu Beginn im Theaterbüro nur noch der Schluss seines Stückes und ein Titel, den Anfang und die Mitte arbeite er gerade um, und eigentlich sei er kein Dichter, sondern ein Politiker, dem die „gräßliche Hungersnot in China“ nicht aus dem Kopf wolle – „Vorhang“. Der mittlerweile erfolgreiche, große, 1931 mit dem Kleistpreis ausgezeichnete Bühnenautor Horváth – die Berliner Theater hatten 1931 die Italienische Nacht und die Geschichten aus dem Wiener Wald und 1932 Kasimir und Karoline herausgebracht – stellte diese kleine, böse Parodie über das zeitgenössische Theater am künstlerischen Abgrund vor den Prospekt seiner theaterästhetischen Konzeption, die er 1932 eine Gebrauchsanweisung nannte: „Alle meine Stücke sind Tragödien – sie werden nur komisch, weil sie unheimlich sind.“2 Unheimlich ja, aber nicht komisch, war 1933 ein pompös-theatralischer „Vorhang“ vor einem politischen Abgrund aufgegangen. In diesen Abgrund fallen die mit Aufführungsverbot auf deutschen Bühnen belegten Stücke Horváths, Heinz Hilperts Berliner Uraufführung von Glaube Liebe Hoffnung kommt 1933 nicht mehr zustande. Dem Abgrund weicht der Autor Ende 1934 nach Wien aus, 1938, nach dem so genannten Anschluss Österreichs, trifft er nach Stationen in Prag, Zürich, Brüssel und Amsterdam Ende Mai in Paris ein. Hier fällt wenige Tage später am 1. Juni der letzte „Vorhang“ für den 37 Jahre jungen Autor.

      Im selben Jahr, 1933, beginnt Horváth die Arbeit an dem vorläufig Die Brücke genannten Stück Hin und her, es markiert ebenso wie Die Unbekannte aus der Seine den Übergang zu seinem Spät- bzw. Exilwerk. Lässt sich diese Komödie, des ironischen Bonmots für das Theater am Ende der Weimarer Republik entkleidet, als „zeitloses Zeitstück“ verstehen? Wäre die Komödie heute mehr als dramatischer Zeitgeist, also das, was Horváth in seinem Dramolett dem Weimarer Theater attestierte? Was wäre ihr ästhetisch-kritisches Potential in einem aktuellen politischen Kontext? Würde es, gegen Heinz Lunzers auf den zeitgeschichtlichen Kontext bezogene Interpretation, der „Aktualität des Themas Heimat- und Staatenlosigkeit“ gerecht?3

      Siegfried Kienzle hat Horváths Stück als eine „bewußt zeitlose Kömödie“ bezeichnet, die „Zeitbezüge“ enthalte.4 Es verhandelt laut dem Dramatiker „das Schicksal eines Mannes, der aus einem Staat ausgewiesen […], aber in den Nachbarstaaten nicht eingelassen [wird] und […] nun gezwungen [ist], eine Zeitlang auf der Brücke zu hausen […], die über einen Fluß gelegt ist, der die Grenze zwischen den beiden Staaten darstellt“.5 Eine biographische und eine produktionsästhetische Dimension des zeitgenössisch aktuellen grenzpolitischen Bezugs lassen sich ausmachen: 1933 lief Horváth Gefahr, seine Staatsangehörigkeit zu verlieren, denn Ungarn verlangte seit 1921 mit dem Gesetz zur Regelung der ungarischen Staatsbürgerschaft, dass im Ausland lebende Staatsbürger ihre Staatsbürgerschaft alle zehn Jahre durch einen Staatsbürgerschaftsnachweis erneuern mussten. Horváth reiste am letzten Tag vor Ablauf der amtlichen Frist am 10. Dezember 1933 nach Budapest.6 Ein grenzpolitischer Bezug findet sich auch in einer Zeitungsmeldung, die Horváth in einem Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung erwähnt. Im Bericht vom 14. September 1933 über die geplante Premiere des Stücks am Deutschen Volkstheater Wien nennt Horváth einen authentischen Grenzkonflikt, den er einer „Zeitungsmeldung“ entnommen habe, einen „unwahrscheinlich[en]“, aber „wortwörtlich wahr[en]“ „Zufall“: „[E]in Mann [war] aus der Tschechoslowakei abgeschoben [worden], aber in Posen, wohin man ihn abschob, nicht eingelassen worden. Auch die Brücke kam in dem Telegramm vor und es hieß, daß dieser Mann mehrere Nächte auf dieser Brücke schlafend zubringen mußte.“7 Die eskapistische Geste des Autors, in seinem Stück sei „[…] freilich von Phantasiestaaten die Rede, es ist dabei an keinen der existierenden Staaten speziell gedacht“,8 hat allerdings nicht verfangen: Die am Wiener Deutschen Volkstheater für Dezember 1933 geplante Uraufführung unter der Regie von Karl Heinz Martin kam aufgrund einer Pressekampagne von rechts nicht zustande. Einen Tag nach dem Interview in der Wiener Allgemeinen Zeitung polemisierte das Wiener 12-Uhr-Blatt gegen den „berüchtigte[n]“ Autor, „der Österreich vor den Augen des Auslands in den Kot gezerrt und den Berlinern den Österreicher als kretiniertes Wesen vorgestellt hat.“9 Statt in Wien kommt Hin und her am 13. Dezember 1934 am Zürcher Schauspielhaus unter der Leitung von Gustav Hartung und im Bühnenbild von Teo Otto heraus. Noch nicht sein Autor – Horváth hält sich zu der Zeit in Berlin auf, empfiehlt sich als Filmautor –, aber das Stück ist schon emigriert. „[E]ine der schönsten Persiflagen auf die Herrschaft des bedruckten und gestempelten Papiers über den Menschen“,10 „gewiss nicht gestriger, menschlich sympathischer Fall“11 und „wirklich bester Komödienstoff“,12 hat gleichwohl keinen Erfolg: Die „prächtige Idee“ werde „so zerdehnt, dass ihre komödienhafte Wirkung allmählich verlorengeht, sich in Posse verflüchtigt“.13 Der „auseinanderstrebende Komödienkuchen“14 mit „halb possierliche[n], halb reflexive[n] Situationen“15 ennuierte den Premierengast Thomas Mann, der ein „minutenweise komisches, aber zu einfallsarmes Singspiel“16 gesehen hatte. Nach nur zwei Aufführungen wurde das Stück abgesetzt. Martin Stern hat dieses Scheitern aus dem Genrecharakter in der Tradition der Wiener Posse und insbesondere ihres Vertreters Johann Nestroy erklärt, auf dessen Stück Hinüber – Herüber (1844) schon der Horváth’sche Titel anspielt und von dem er zum Beispiel das Handlungselement der Belohnung für die Verhaftung von Dieben übernimmt. Handlungsführung und die finale Versöhnung, vor allem aber ein assoziativer Sprachgebrauch seien an ein Wiener Publikum adressiert gewesen.17 Horváth selbst hatte im Interview mit der Wiener Allgemeinen Zeitung zugestanden, dass seine Posse mit Gesang „in mancher Hinsicht an Nestroy und Raimund“ erinnere.18 Johanna Bossinade sah die Anforderungen an das „Modell ‚Posse‘“ jenseits des grenzpolitischen Themas und Konflikts „nachgerade übererfüllt“.19

      Trotz dieses formtraditionellen Potentials wurde Hin und her nach 1945 in Österreich kaum aufgeführt, wie überhaupt Horváths Dramen im Kontext personeller

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