Grenze als Erfahrung und Diskurs. Группа авторов

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als ein begrenzter Ort. Hier musste er zwar nicht um sein Leben fürchten, aber die Reisemöglichkeiten waren aufgrund der politischen Situation wie aus finanziellen Gründen limitiert. Die Befreiung Deutschlands und Europas durch die Alliierten im Jahr 1945 bedeutete deshalb für ihn, wie für viele Emigranten, eine Befreiung aus dem Ort des Exils.

      Vor allem zeigt sich diese wieder gewonnene Freiheit in den Reisen, die der Schriftsteller in den folgenden Jahren durch Europa, Nord- und Südamerika, Asien und Afrika unternommen hat. In einer Welt, in der die politischen und ideologischen Konflikte, die sein Leben über viele Jahrzehnte bestimmt haben, überwunden sind, wird er zu einem Ruhelosen, für den die Reise von Ort zu Ort, über Ländergrenzen und Kontinente zu der einzigen Lebensform wird, die noch möglich ist – gleichsam als wäre die wiederholte Erfahrung der Flucht zu einem Teil seiner Person und seines Wesens geworden. Exemplarisch wird dies in einem späten Brief greifbar, den er am Weihnachtsmorgen des Jahres 1962, also nur wenige Wochen vor seinem Tod, in Beirut verfasste und an seine Schwester Marianne Regler-Schröder sandte:

      […] wir sind im privaten Wagen eine Woche durch Griechenland gefahren, waren oben in Delphi beim Orakel, fuhren über den Golf von Korinth nach Olympia, waren im uralten Mykenä und kamen über den Isthmus zurück nach Athen, wo wir am Abend das Flugzeug nach Cypern und hier nahmen. Den Weihnachtsabend verbrachten wir in der Luft (was Dir wohl einen Schauder einjagt – solche Heiden! Aber beruhige Dich; der Flugkapitän wünschte alle halbe Stunde von seiner Kabine in allen Sprache[n], auch der von Homer und Sophokles, Merry Christmas, und das Radio war voll von Chorälen und über unserm Abendessen hing eine silberne Glocke mit weissbestreuten Tannenzweigen

      Ich benutze den frühen Morgen in der Sonne des Mittelmeers, wo man Delphine springen sieht auf alte griechische Weise, Euch unsere Neujahrgrüsse zu senden.

      […]

      Unsere nächste Adresse ab 3. I. für mindestens den ganzen Januar ist

      American Express

      New Delhi / India. […]2

      Indem er zu Weihnachten, Fest der deutschen Innerlichkeit, an seine Familie in Merzig denkt und schreibt, aber zugleich mit dem Flugzeug von Griechenland über Cypern, den Libanon und die arabische Halbinsel nach Indien unterwegs ist, dokumentiert der Brief das Spannungsverhältnis zwischen der Erinnerung an die Heimat (und das mit ihr Verlorene) und den fortwährenden Grenzverschiebungen, die seine Existenz nunmehr bestimmen.

      Weil Regler in den Jahren seines mexikanischen Exils einer Kultur begegnete, in welcher sich die ihm seit seiner Kindheit vertraute katholische Religion mit Traditionen und Riten der indianischen Kulturen durchmischte, vermochte das Fremde durch diesem inhärente Momente des Bekannten eine Faszination zu erlangen, die den Schriftsteller – zu einem Substitut für die verlorene Heimat werdend – zu einem Reisenden machten, der fortan auf der Suche war nach dem Eigenen im Fremden und Anderen. Er lebte während dieser späten Jahre in der unausgesprochenen, aber vergeblichen Hoffnung, im Transitorischen etwas Vertrautes zu finden und indem er beständig unterwegs war, bleiben zu können.

      Seinen Tod als ein Sinnbild dieser Lebensform zu begreifen, ist nicht nur deshalb naheliegend, weil Regler sich – gemeinsam mit seiner dritten Ehefrau Margaret Paul – auf einer Studienreise durch Indien befand, als er am Nachmittag des 14. Januar 1963 starb. In seiner Autobiografie, die seit den 1940er Jahren in verschiedenen Arbeitsphasen und Fassungen entstanden ist,3 interpretiert er das eigene Leben einerseits im Sinne einer Zeugenschaft jener politischen Entwicklungen, Umbrüche und Verwerfungen, welche die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bestimmt haben. Andererseits erhebt der Text seine Biografie zu einem exemplarischen Lebensweg für die Verlusterfahrungen und Verunsicherungen des Menschen in der Moderne. Die These von der Sinnbildhaftigkeit seines Todes ist also ein Nachklang jener Verschränkung von gelebter Erfahrung und Literatur, die in der Erzählung seiner Lebensgeschichte programmatisch angelegt ist.

      Diese metaphorische Dimension des 1958 von Kiepenheuer und Witsch in Köln verlegten Erinnerungsbuches wird auch in dem Diskurs über die Grenze sichtbar, von dem das Werk strukturiert und bestimmt wird. Im Ersten Buch des Ohr des Malchus erscheint die Grenze zunächst in dem Sinne jener Bedeutung des Wortes, welche die imaginäre Trennung zweier Territorien, die aus historischen Bedingungen entstanden ist oder in spezifischen Machtverhältnissen ihre Begründung findet, bezeichnet. So erzählt Regler von Spaziergängen, die ihn in der Nähe seines Geburtsortes Merzig, zwischen Hilbringer Wald und Märchengrund, in Begleitung seines Vaters zu der lothringischen Grenze führten. Die programmatisch überformte und literarisch stilisierte Kindheitsbegebenheit hinterfragt das in den Übergängen vom 18. zum 19. Jahrhundert entstandene Konzept des Nationalstaates und dekuvriert auf diese Weise das Normative der Grenzziehung und der daraus resultierenden Distinktionen als Imagination, weshalb es künstlicher Merkmale und Kennzeichnungen bedarf, diese sichtbar und dauerhaft verifizierbar zu machen.

      Ostern zog er [der Vater] mit uns über die Felder und Hügel und lehrte uns die „wichtige Umgebung“ kennen […]. Wenn wir dann „ganz am Anfang“ angelangt waren, wo es keine Geographie mehr gab, lenkte er wohl zur alten viel umstrittenen Grenze zwischen Deutschland und Frankreich hin und ließ uns an bestimmten Stellen Blumen pflücken oder das Fallobst von verschiedenen Bäumen probieren; unvermittelt fragte er uns: „Welcher Apfel ist französisch?“ Wir hielten die angebissenen Äpfel still vor unsern Mündern und sahen auf die Baumallee, die aus dem Unendlichen zu kommen schien und sich in das Unendliche fortsetzte. Wir verstanden ihn früh: er glaubte nicht an Grenzen.4

      Auch wenn Regler seine Heimatstadt bereits früh verlassen hat und lediglich im Kontext des Abstimmungskampfes der Jahre 1933 bis 1935 für längere Zeit in das Saargebiet – er selbst nennt es das „kleine Niemandsland zwischen dem Dritten Reich und Frankreich“5 – zurückkehrte, bewies sich die Erfahrung der französischen und der deutschen Traditionen, die in dieser Grenzregion einander sowohl wechselseitig durchdringen und ergänzen als auch gegeneinander streiten, als bestimmend für sein literarisches Werk wie sein politisches Engagement.

      Die Episode, von der er in jenen einleitenden Kapiteln seiner Autobiografie erzählt, die der Kindheit und Jugend in Merzig gewidmet sind, überführt darüber hinaus dieses große Thema seines Lebens in ein literarisches Bild. So ist die vom Vater anschaulich vermittelte Einsicht in das Konzept der Grenze als Konstrukt der Hintergrund für die Beschreibung eines Lebens im Spannungsfeld der nationalistischen Verwerfungen und ideologischen Konflikte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sie grundiert die Erfahrungen des Krieges, die Reglers private wie literarische Existenz wesentlich bestimmt haben: Nach dem Abitur wurde er als Infanterist zum kaiserlichen Heer eingezogen und erlitt an der Westfront eine Gasvergiftung. In Das Ohr des Malchus inszeniert er sich demnach als Angehörigen einer vom Krieg gezeichneten und deshalb geistig ortlosen, verlorenen Generation. Im Spanischen Bürgerkrieg kämpfte er als Politischer Kommissar bei den Internationalen Brigaden gegen die von General Francisco Franco angeführten spanischen Faschisten; auch dort wurde er schwer verwundet. Schließlich zwang ihn der vom nationalsozialistischen Deutschen Reich entfesselte Krieg, Europa zu verlassen und nach Mexiko zu emigrieren.

      Sein Erinnerungsbuch erzählt von diesen Erlebnissen und betrachtet die politischen und ideologischen Positionen, in deren Gravitationsfeldern sich das Leben des Schriftstellers bewegt hat. Der intellektuelle Internationalismus, den das Werk vertritt, erlangt durch den Rückbezug auf die Herkunft aus dem deutsch-französischen Grenzgebiet eine Beglaubigung durch das eigene Leben: Indem das erzählte Ich bereits als Kind versteht, dass Grenzen gedachte Linien sind, dass sie politische und ökonomische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen zwar beeinflussen und wesenhaft prägen, aber dennoch nur als Konstrukte zu verstehen sind, indem die für den Verlauf der Geschichte Europas im 19. und 20. Jahrhundert so wesentliche Beziehung zwischen Deutschland und Frankreich ein integraler Bestandteil der Lebenserzählung ist, verweist der Text auf das Metaphorische, das in den Bildern der Grenze und den Diskursen über Grenzverläufe zugleich angelegt ist.

      Dieses

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