Grenze als Erfahrung und Diskurs. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Grenze als Erfahrung und Diskurs - Группа авторов страница 10

Grenze als Erfahrung und Diskurs - Группа авторов Passagen

Скачать книгу

der Staat, der ihn als Fremden ausweist, ist ihm im Verlauf seines Lebens vertraut geworden: „(Havlicek) Wissens, es schaut nämlich einfacher aus, als wie es ist, wenn man so weg muß aus einem Land, in dem man sich so eingelebt hat, […] es hängen doch so viel Sachen an einem, an denen man hängt.“57 Cornelia Krauss hat Heimat eine „existentielle Metapher“ im Spätwerk Horváths genannt.58 In der Tat bekennt sich der Schriftsteller durch die zu Empathie fähige Figur Eva zu einem Heimat-Begriff als Erfahrung von Identität und Alterität: „(Eva) So ohne Heimat möchte ich nicht sein. Überall fremd, überall anders –“.59 Eine personifizierte Heimat rahmt refrainartig das „Finale mit Gesang“: „O Heimat, die ich nicht kennen tu / Bring mir den Frieden, bring mir die Ruh!“60 Havliceks Evokation von Heimat ruft deren aus dem 19. Jahrhundert stammende kulturpolitische Konstruktion und ästhetische Gestalt auf – Mondschein, (Todes-)Sehnsucht („O Heimat, wie bist du so schön / In dir möchte ich sein und vergehn!“),61 Mythos („voll Märchen und voll Sagen“),62 in der Vorstellungswelt präsent als „Ansichtskarte“,63 also nicht als individuelle Wahrnehmung, sondern als geronnenes, sentimentales Bild. Trotz der signifikanten Kombination der Signalwörter entbehrt diese Heimatvorstellung der mit Heinrich Heine und dem Horváth der Zwischenkriegszeit assoziierten ironischen Distanzierung. Noch 1929 hatte Horváth seine Heimatlosigkeit begrüßt, denn sie befreie ihn von „unnötiger Sentimentalität“.64 Der Exilkontext des 19. wie des 20. Jahrhunderts (wie überhaupt) kündigt Heimat dem zum Objekt gewordenen Subjekt auf, die räumliche Distanzierung geht mit einer ideellen Annäherung einher.

      Andere Motive beleben das Thema der Heimat- und Staatenlosigkeit. Die Motive Täuschung und Schein und Sein kommen ins Spiel mit einem gefälschten Pass65 und dem Incognito-Auftritt der Regierungschefs. Der erlaubt Verwirrung durch Verwechslung, wenn X Havlicek auf der Brücke im Dunklen für den anderen Regierungschef Y hält oder wenn Rauschgift-Schmuggler als harmlose Reisende angesehen werden. Indem sie ihre Absichten betrügerisch durch Verkleidung verbergen, bilden sie den Kontrast zum offen zutage liegenden Fall des Protagonisten und dessen authentischer Absicht. Das aus dem Unterhaltungsgenre stammende Element des Kriminellen, des Diebs oder Schmugglers zieht dem Geschehen das Spannungs-Motiv von Jäger und Gejagtem ein, auch der Protagonist ist ein Gejagter, und mit ihm bekommt die als harmloses Kinderspiel von „Räuber und Gendarm“66 gespiegelte Kriminalhandlung eine politische Dimension. Spätestens hier muss auf die zeitgenössische Filmproduktion verwiesen werden: Der politisch aufgeladene Kriminalfilm ist ein populäres Genre des Weimarer Kinos. 1933 kommt ein Schmuggler-Krimi in die Filmtheater mit dem Titel SCHÜSSE AN DER GRENZE.67 Aus Horváths allein finanziell motivierten Verbindungen mit der Filmbranche 1933–1934 sind für den Kontext Hin und her folgende Aspekte interessant68: In einem Brief an den Filmdramaturgen Rudolph S. Joseph vom 30. Oktober 1933 bezeichnet er die Posse mit Gesang als „höhere[n] Blödsinn“ und „Geblödel“,69 die erstmalige Verwendung von Liedeinlagen (Komposition: Hans Gál) ist ein Tribut an das beliebte und erfolgreiche Genre der Tonfilmoperette, an dem Horváth im Falle der Nestroy-Verfilmung DAS EINMALEINS DER LIEBE70 beteiligt war, sein Notizbuch verzeichnet fünf Filmprojekte, darunter eines mit dem Titel „Zwischen den Grenzen“.71

      Die Grenzorgane Thomas Szamek und Konstantin und der Staatenlose Ferdinand Havlicek verkörpern Jäger und Gejagten. Die Grenzorgane sichern die Macht der personifizierten und mit den Regierungschefs der Staaten konkurrierenden bzw. ihnen übergeordneten Grenze („auf den sich die Grenz verlassen kann“).72 Ihre Loyalität („unser Staat“, „unsere Wohlfahrtspflegerei“)73 gefährden Langeweile und schlechte Bezahlung,74 ihre professionelle Kompetenz, die sie über ihr „gewissenhaft[es]“ und „pflichtbewusst[es]“ Handeln hinaus unter Beweis stellen, als sie den falschen Pass entlarven,75 gefährdet Mitgefühl; Konstantin unterscheidet, er sei ein „Grenzorgan und kein Mensch“.76 Der Staatenlose ist Gegenstand politisch-administrativen Handelns, ein entindividualisiertes Objekt, den man einen „amtlichen Fall“ nennt,77 einen „Niemand“,78 einen „Irrtum“,79 einen „Witz“.80 Der Autor variiert die sprachlichen pronominalen Negationen für die Auslöschung des Subjekts. Der abwertenden Semantik der Entwürdigung korrespondiert die Semantik der Aufwertung, wenn der Protagonist von anderen ein „Engel“ genannt wird.81 Der „Ausgewiesene“82 ist ein „Fachmann in puncto Ungerechtigkeit“,83 denn er ist nicht etwa ein Verbrecher, sondern bloß ein 50 Jahre alter Drogist, dem das „Unglück“ des Bankrotts widerfahren ist. Unfähig zu kriminellem Handeln – er versäumt es, die Regierungschefs, in deren heimliches Treffen er zufällig hineingerät, zum Zweck einer Einreiseerlaubnis zu erpressen –,84 zeichnet er sich im Gegenteil durch Höflichkeit, Bildung und Einfühlung aus.85 Seine rhetorische Begabung, sein Einfallsreichtum („Idee“)86 und seine Anteilnahme behaupten die Subjekthaftigkeit der Figur gegen ihren Objektstatus, seine Flexibilität – er übernimmt Kurierdienste für Eva und Konstantin und bezeichnet sich als „wanderndes Billetdoux“87 –, seine Zähigkeit – er gibt nicht auf – und Handlungsfähigkeit – er befreit Konstantin und Eva – qualifizieren ihn sogar dazu, „unser aller Retter“ zu sein,88 seine Großzügigkeit – er überlässt Konstantin die Hälfte des Kopfgeldes für die Festnahme der Schmuggler – beschämt. Der Staatenlose ist ein „braver Mann“,89 mit einem Wort: gesetzlicher und individueller Status widersprechen sich. Eingebettet in eine achsensymmetrisch angeordnete Figurenkonstellation – auf jeder Seite agieren Grenzorgan, Regierungschef und weibliche Figur –, führt das Spiel die Handlung in Parallelen und Spiegelungen vor: Die Grenzüberschreitung hat im Falle der Schmuggler einen kriminellen Beweggrund, im Falle des Staatenlosen einen existentiellen. Der Konfrontation der ausführenden Grenzorgane steht der Versuch einer diplomatischen Annäherung der politisch Verantwortlichen gegenüber. Die Konfrontation der Grenzorgane wird unterlaufen durch die Liebesverbindung von Eva, der Tochter des Grenzers Thomas Szamek zur Linken, und Konstantin, dem Grenzer zur Rechten. So wie Eva zwischen Vater und Geliebtem steht, steht Havlicek zwischen zwei Staaten. Zwei Konflikte, ein privater und ein politischer: Liebes- und Landeszugehörigkeit, werden also übereinander geschoben. Zugleich repräsentieren die weiblichen Figuren im Verhältnis zu den männlichen ein gender-spezifisches Motiv: Der den Männern eigenen Antipathie und Gleichgültigkeit für den Protagonisten stehen Sympathie und Mitgefühl der Frauen für den heimatlosen Ausgewiesenen gegenüber: „(Frau Hanusch) Armer Mensch! Macht übrigens einen ganz einen sympathischen Eindruck“;90 „(Eva) Komisch seid ihr Männer.“91 Der Gender-Aspekt kreuzt sich mit einem migrationsspezifischen Motiv: Der Zuneigung der verwitweten Postwirtin Frau Hanusch – Evas Pendant auf der rechten Seite – und dem ihr drohenden Konkurs korrespondiert Havliceks prekäre ökonomische Lage, sie verbindet also materielle Interessen, für die eine Heirat als Lösung erscheint, sie „passen zusammen“:92 Eine Eheschließung wäre für den Staatenlosen gleichbedeutend mit einer Einreise und einer beruflichen Zukunft als Gastwirt, für die Wirtin gleichbedeutend mit einer Dienstleistung – „(Frau Hanusch) Ein Mann ist schon was Notwendiges, wenn er auch nur repräsentiert.“93 – und einer privaten Zukunft, die sich die am mangelnden männlichen Begehren leidende Frau von der Heirat verspricht. Übersetzt in den Aufbau, gleicht das „Lustspiel in zwei Teilen“94 einer Sinuskurve, die sich auf der horizontalen „Brücken“-Achse „hin und her“ bewegt und auf der vertikalen Achse am Ende des ersten Teils ihren Tiefpunkt erreicht, als Havlicek in der Nacht alleine auf der Brücke steht, nur in Gesellschaft des Mondes und des neutestamentarisch als Verrat und Tod identifizierten krähenden Hahnes.95 Der zweite Teil mündet in der Morgendämmerung in ein „sichtbar konstruierte[s]“ Happy End“,96 in dem alle Figuren vereint und alle Konflikte gelöst sind – ein märchenhaftes „Ende gut, alles gut!“97 Eines, das die Physik allerdings gefährdet, denn alle befinden sich am Ende auf einer (der linken) Seite der Brücke. Die Dramentektonik unterminiert die glückliche Auflösung, das Happy End ist aus Gründen der Statik riskant, die Utopie ist gefährdet durch die physische Wirklichkeit.

      Und gefährdet durch die politische Wirklichkeit, die „Realität der Grenzziehung und Grenzposten auf dieser Welt.“98 Vor dem Hintergrund globaler Migration und internationaler bzw. nationaler Asylpolitik haben deutschsprachige Bühnen Horváths Stück Hin und her in der Perspektive von Aktualität und Parallelität entdeckt. Seit 2006 lassen sich acht Inszenierungen in Regensburg (2006), Wien (2009, 2016), München (2010), Hall in Tirol (2015), Frankfurt am Main (2015), Freiburg (2016) und

Скачать книгу