Grenze als Erfahrung und Diskurs. Группа авторов

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Sprung in unsere Zeit schafft.“103 Die Theater verstehen das Stück als „Spiegel“,104 sie lesen es als eine „knochentrockene realistische Studie“.105 „Die erschreckenden Parallelen zu unserer Gegenwart […] lassen nicht lange auf sich warten, zu präsent sind die Bilder in den Medien und zum Teil bereits vor unserer Haustür.“106 Um „die Gegenwart [zu] beleuchten und womöglich Unruhe [zu] stiften“ (Hazel Rosenstrauch), haben die Bühnen Horváths exil- und migrationsrelevantes Thema in einem identifikatorischen Ansatz von Studenten aus sechs Ländern spielen lassen (Theater babylon, Universität Regensburg), unterhaltend in der Tradition des Volksstücks gegeben (Freiburg, Hall in Tirol), intertextuell geöffnet auf Jean Paul und Elfriede Jelinek (Schauspiel Frankfurt am Main), aus einem kritischen Genreansatz das Groteske fokussiert (Akademietheater München) und in einem intermedialen Verfahren moderne musikalische Kompositionen hinzugefügt (Schlüterwerke, Wien). Von einem wirkungsästhetischen Ansatz der Verfremdung durch Kostümstrategien gehen die Wiener und Braunschweiger Inszenierungen aus, die Schlüterwerke setzen ihn um mit balinesischen Masken; in Braunschweig arbeitet man mit Wolfsfellen, assoziiert die wölfische Natur des Menschen und räumt in den symbolisch aufgeladenen Bildern von Wald und Wolf, die sie für ihre Versuchsanordnung aufrufen, mit der Vorstellung von der Natur als Gegenwelt auf.

      Das Potential literarischer Grenzerfahrung, das in Hin und her steckt, hat Steven Spielberg filmisch aktualisiert. Seinem Film TERMINAL (2004) liegt wie bei Horváth eine authentische Begebenheit zugrunde, auch hier verknüpft sich der Plot mit dem Genre der Komödie. Spielberg griff den Fall des Iraners Mehran Karimi Nasseri auf, der seit 1988 mehr als sechs Jahre auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle gelebt hat. Der amerikanische Regisseur erzählt den Fall im Kontext des Narrativs von den Vereinigten Staaten als Einwandererland und vor dem Hintergrund von „9/11“. Er interpretiert den Fall als unterhaltsame Fabel.

      Ödön von Horváths komisches und unheimliches „zeitloses Zeitstück“ ist ein hochartifizieller Text über den Begriff ‚Grenze‘. Sein Potential literarischer Grenzerfahrung lässt sich so umreißen:

      Politische Grenzen sind mit Jürgen Osterhammel „physische Vergegenständlichung des Staates und Orte der symbolischen und materiellen Verdichtung von Herrschaft.“107 Globale Migration verflüssigt den Begriff der Grenze, hebt Grenze als Indiz und Zeichen der Territorialisierung von Macht auf. Im Spiegel transnationaler Grenzforschungsprojekte, die zum Beispiel in Berlin und Frankfurt an der Oder etabliert sind,108 dient Horváths Stück diesseits des slapstick-Elements des „hin und her“, der Konstruktion einer Welt und der Empörung, also diesseits von Komödie, Fiktion und Moral, als Muster politischer Methoden und als Handlungsmodell.

      Der Protagonist ist eine ‚displaced person‘, er ist ein Flüchtling nach der Definition des „Abkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge“, das die UN-Sonderkonferenz 1951 beschloss. Die Auffassung der Genfer Flüchtlingskonvention, die den passiven Objektstatus betont, wird in der Kritischen Migrationsforschung durch den Begriff des Migranten als Akteur abgelöst. Kristina Schulz (Bern) und Irene Messinger (Wien) sprechen von „Subjektivierung der Migration“, die an die Stelle der Viktimisierung (Opfer) und der Kriminalisierung (Täter) trete. MigrantInnen als aktive, handelnde Subjekte zu begreifen, heißt, nach ihren „sozialen Praktiken in und zwischen Herkunfts- und Zielländern“ zu fragen.109 Horváths handlungsfähiger Protagonist kann hierfür als Typus gelten.

      Das Stück bietet exemplarische Lösungsstrategien bzw. Lösungen und alternative Deutungen an:

      Es trennt den Begriff ‚Heimat‘ von (ethnischer) Herkunft (Geburtsort) und spricht stattdessen von kultureller Erfahrung und Praxis.110

      Es öffnet die physische Konnotation der ‚Grenze‘ auf metaphysische und zugleich gesellschaftlich wirkungsmächtige Differenzierungen von ‚eingrenzen‘ / ‚ausgrenzen‘, ‚begrenzt‘ (Territorium) / ‚unbegrenzt‘ (Solidarität).

      Es hebt die Dichotomie auf von exterritorialem und territorialem Raum, statt abgeschottet zu sein, kann ein (Flüchtlings)Lager als integraler Aufenthaltsort installiert werden. Der zwischen Migranten und Einheimischen liegende Raum kann wie die Horváthsche „Brücke“ ein Ort der Versöhnung statt der Trennung sein.

      Es rückt vor administratives, normatives Handeln111 individuelles, konkretes Verhandeln,112 vor prinzipielle Distanz113 individuelle Hilfsbereitschaft und Nähe.

      Es stellt die Kriminalität bzw. Kreativität von Lösungen zur Debatte wie: illegaler Grenzübertritt,114 gefälschter Pass,115 Erpressung und Aggression, physische Gewalt.116 Denn Gesetz produziert Gesetzesverstoß.

      Es wertet den pejorativen Begriff Schein-Ehe im Sinne einer Interessengemeinschaft auf. Die formaljuristische, auf Täuschung bzw. Betrug rekurrierende Auffassung von Schein-Ehe entbehrt einer belastbaren Nachweisbarkeit.117

      Seiner gezähmten Märchenhaftigkeit entkleidet, birgt die ethische Dimension des utopischen Schlusses ein Lösungs- oder Rettungspotential, das der Dramatiker 1933 im Rückgriff auf idealistische und individualistische Konzepte formulierte:118 Humanität. Seine „Absicht“, so Horváth 1933 gegenüber der Wiener Allgemeinen Zeitung, sei es zu zeigen, „ […] wie leicht sich durch eine menschliche Geste unmenschliche Gesetze außer Kraft setzen lassen.“119 Solidarität, „Schlüsselwort für das Spätwerk Horváths“120 und ‚conditio humana‘, provoziert, über wohlfeile Moralität hinaus, soziale Praxis.

      Die radikale Dimension des Stückes liegt in seinem Modellcharakter. Diesseits des konstruierten Happy Ends vollzieht sich ein Experiment auf Zivilität. Konfrontation, Unverständnis, Befremden, Irritation, Panik: Wie wenn es von Heinrich von Kleist stammte, überdeckt der Akt der Versöhnung fröhlich laut, was davor geradezu grausam vorangetrieben wurde. Die Grenzüberschreitung von Natur und Kultur legt bloß, wie fragwürdig die Emanzipation vom Naturzustand des Menschen ist.

      Das Konkrete, das Imaginäre und das Symbolische

      Über die Grenze in Gustav Reglers Erinnerungsbuch Das Ohr des Malchus

      Sikander Singh, Saarbrücken

      Während seiner späten Jahre als Reisender hat er viele Grenzen überquert. Der 1898 in Merzig an der Saar geborene Schriftsteller und Journalist, Kommunist und Renegat, Spanienkämpfer und Exilant Gustav Regler hat nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges, das er in Mexiko erlebte, nicht mehr in die alte Heimat, das nunmehr befreite Deutschland, zurückgefunden. Darin gleicht sein Lebensweg denjenigen zahlreicher Intellektueller, die zwischen 1933 und 1945 die Einflusssphäre des sogenannten Dritten Reiches verlassen mussten, und denen die Fremde zwar nicht zur Heimat wurde, die Heimat aber zur Fremde.

      Das für die emigrierten Schriftsteller Problematische hat nicht nur in der Forschung vielfach Beachtung gefunden, auch in Romanen und Erzählungen, Gedichten und Dramen sind diese Erfahrungen und ihre literarischen wie lebensweltlichen Konsequenzen reflektiert worden.1 Gerade vor diesem Hintergrund zeigt sich jedoch in dem Leben, das Gustav Regler in den Nachkriegsjahrzehnten führte, ein besonderes Moment, das einer Betrachtung wert ist. Dieser Beitrag wird deshalb zunächst einleitend über den Lebensweg des Schriftstellers nachdenken, um nachfolgend einige Gedanken zu seinem 1958 erstveröffentlichten, autobiografischen Lebensroman Das Ohr des Malchus zu entwickeln.

      Nachdem Regler im Jahr 1933, unmittelbar nach dem Reichstagsbrand, auf der Flucht vor der Gestapo über Worpswede und das Saargebiet – wie im Vertrag von Versailles geregelt, war das Industriegebiet an der mittleren Saar seit 1920 ein Mandatsgebiet des Völkerbundes –, nachdem Regler solchermaßen nach Paris emigrieren musste, war Europa für ihn zu einem Kontinent voller Grenzen geworden. Seine Internierung im Pyrenäenlager Le Vernet als Enemy Alien, als eine Konsequenz aus dem Kriegseintritt Frankreichs im Herbst 1939, dokumentiert dies ebenfalls sehr deutlich. Aber auch Mexiko, wohin er, gemeinsam mit seiner zweiten Ehefrau

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