Grenze als Erfahrung und Diskurs. Группа авторов

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erzählte Ich zu überqueren bzw. zu überwinden hat. So berichtet das Vierte Buch von einer Zugfahrt, die im Jahr 1933 aus dem Saargebiet, dem „Niemandsland des Völkerbundes“, nach Trier führte.6 Obwohl er sich des Riskanten und Gewagten bewusst ist, schließt er sich einer Gruppe von Gläubigen an, die in die Domstadt pilgern, um den Heiligen Rock zu sehen.

      Täglich fuhren Pilgerzüge das Saartal hinunter, ohne sich um die Grenze zu kümmern. In den wenigen Monaten des Exils war mir der Gedanke in Fleisch und Blut übergegangen, daß das Dritte Reich identisch sei mit Terror, Gewalt und Verfolgung. Niemand von uns konnte sich getrauen, ins Reich zurückzukehren, ohne den Tod zu riskieren. Würden die Pilger die veränderte Luft riechen, wenn sie aus dem liberalen Saarland ins Reich der Diktatur fuhren? Ich wollte es selbst feststellen und schloß mich unter einem anderen Namen einem der Pilgerzüge an.7

      Der Text inszeniert das Gefahrvolle des Grenzübertrittes mit retardierenden Momenten, indem der Erzähler von der Landschaft, den Pilgern im Zug und schließlich einem stattgefundenen Gespräch über die Passion Jesu Christi berichtet.8 Signifikant ist die Schilderung der Zugreise deshalb, weil der Gedanke der „veränderte[n] Luft“, den der Erzähler – zwischen Soliloquium und rhetorischer Frage die Balance haltend – formuliert, als eine Kontrafaktur auf den Spaziergang des Knaben mit dem Vater bezogen ist.9 Betont dieser das Immaterielle von Grenzen sowie die Fragwürdigkeit, die Schnittstellen zwischen Nationen durch Markierungen sichtbar und damit erst unterscheidbar zu machen, bezeichnet die Grenze hier die Differenz zwischen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung des Saargebietes unter dem Statut des Völkerbundes, und der Herrschaft der Gewalt und Willkür im nationalsozialistischen Deutschen Reich. Solchermaßen inszeniert der Erzähler den Kontrast zwischen der Liberalität seines Denkens, die in Herkunft und Erziehung gründet, und seiner Epoche, die – das Trennende zwischen den Völkern und Staaten betonend – von dem (Un)Geist des Nationalismus bestimmt wird und zwei Weltkriege hervorgebracht hat. Die rhetorische Frage, welche die autobiografische Darstellung in das Zentrum dieser Zugfahrt rückt, dekuvriert den Internationalismus des Intellektuellen jedoch als eine schöne, aber vergebliche Hoffnung.

      Im Fluchtpunkt dieser Erzählung liegt das Bild, das die Autobiografie von dem Tag zeichnet, an dem das Ergebnis der Saarabstimmung vom 13. Januar 1935 bekannt gegeben wurde. Das erzählte Ich hat auf Seiten der kommunistischen Partei für den Erhalt der bestehenden Rechtsordnung und damit für den Verbleib des Saargebietes unter dem Statut des Völkerbundes gekämpft. Die sogenannte „Rückgliederung“ an das Deutsche Reich, für die über neunzig Prozent der Bevölkerung gestimmt hatte, bezeichnet deshalb einerseits die Niederlage einer humanistischen Idee; andererseits dokumentiert sie den progredienten Zerfall der europäischen Friedensordnung in der Zwischenkriegszeit. Für den politischen Schriftsteller, der seit dem November 1934 den Nationalsozialisten als Staatsfeind galt und deshalb verfolgt wurde, bedeutete sie auch die Notwendigkeit einer erneuten Flucht nach Frankreich. Das Symbolische, das in diesem Grenzübertritt liegt, der ein weiteres Mal ein Gang in das Exil ist, wird in der Darstellung durch das erzählende Ich in besonderer Weise herausgearbeitet. Über den Abend des 14. Januar 1935 heißt es in Das Ohr des Malchus:

      Ich entkam in der Nacht durch die Wälder von Forbach, über den Berg von Spichern nach Lothringen. Als ich am deutschen Soldatenfriedhof vorbeikam, fiel mir ein, daß 1870 mein Großvater hier gegen die Franzosen gekämpft hatte; Vater aber hatte uns vor den gleichen Gräbern immer gesagt, die Soldaten seien für eine Chimäre gefallen, es gebe keine Grenzen, wenn man genau hinschaue, nur Grabsteine, aus denen die Menschen nichts lernen. Auch daran dachte ich in diesem Augenblick.10

      Die Flucht führt das erzählte Ich nicht nur über die räumliche Grenze nach Lothringen, in das sichere Frankreich, sondern auch über eine zeitliche in die Vergangenheit. Beide Bewegungen erscheinen im Text simultan; und beide vollziehen sich vor dem Hintergrund der deutsch-französischen Geschichte, deren Folgen auch die Gegenwart des Erzählers noch bestimmen.

      Die Erinnerung an den Krieg des Jahres 1870/1871, die mit dem Verweis auf den Großvater und dem Bild des Soldatenfriedhofes evoziert wird, deutet nur sekundär auf die sogenannte Reichsgründung nach dem Sieg der deutschen Staaten über die zweite französische Republik. Sie rekurriert primär auf die Haltung des Vaters, den Glauben seiner Epoche wie das Sinn- und Identitätsstiftende der Grenzen zu hinterfragen. In dem nächtlichen Grenzübertritt des erzählten Ich überlagern sich also zum einen zeitliche und räumliche Dimensionen, zum anderen die Flucht Gustav Reglers aus dem Saargebiet im Januar 1935 und die retrospektive, autobiografische Betrachtung bzw. Verortung derselben.

      Der nachfolgende, das Kapitel beschließende Abschnitt nimmt weitere Aspekte der Grenz(land)thematik auf und setzt diese mit den zuvor genannten in Beziehung:

      Ganz nah schon der Grenze fiel mir Kaganowitsch ein, der mich für den Fall unseres Sieges zu einem Fest nach Moskau eingeladen hatte. Es war eine sternenklare, kalte Nacht. Der große Bär stand über dem Warndt, dort, wo die Maginot-Linie unterbrochen war. Ich begegnete weder einem Grenzwächter noch einem Nazi. Sie feierten alle. Aus dem Tal von Saarbrücken schossen Raketen; vom Winterberg glühte ein Freudenfeuer.11

      Indem der einsame Weg, den das erzählte Ich durch Nacht und Kälte nimmt, mit den Bildern der Feiernden, der Raketen über dem Tal und dem leuchtenden Feuer über der Stadt kontrastiert, veranschaulicht der Text die Verlassenheit, die mit dem Gang in die Emigration verbunden ist. Der Grenzübertritt erscheint in dieser Lesart auch als ein Schritt in die soziale Isolation. Das Pathos, mit dem dies inszeniert wird, unterstreicht den Aspekt zusätzlich.

      Zugleich wird das Persönliche, das in diesem Erleben liegt, mit dem Zeitgeschichtlichen in ein Verhältnis gesetzt. Denn die Nennung der von dem französischen Verteidigungsminister André Maginot zwischen 1930 und 1940 errichteten Verteidigungsanlage verweist auf die konfliktgeladenen deutsch-französischen Beziehungen in dem Jahrzehnt, das dem Zweiten Weltkrieg vorausging. Aber noch eine weitere Dimension der Erfahrung von Grenze wird in diesem Textabschnitt sichtbar: Die imaginäre Linie der politischen Landkarte, die Nationen, Macht- und Einflusssphären voneinander scheidet, aber keine Entsprechung in der Topografie der Landschaft hat, ist mit diesem Verteidigungssystem entlang der französischen Grenze zu Belgien, Luxemburg und dem Deutschen Reich dinghaft geworden. Dass der Erzähler bei seinem nächtlichen Grenzübertritt um eine Stelle weiß, „wo die Maginot-Linie unterbrochen war“, kann deshalb als ein Sinnbild für die Position des Schriftstellers zwischen Deutschland und Frankreich gelesen werden.12

      Während die Natur solchermaßen von der Kultur verdrängt und überformt worden ist, richtet sich der Blick des erzählten Ich in dem Bericht über seine nächtliche Flucht auf den weiten, unbegrenzten Sternenhimmel. Vor dem Hintergrund politischer Ideologien, kriegerischer Auseinandersetzungen und lebensgeschichtlicher Krisen verweist Reglers Erinnerungsbuch damit auf den Widerspruch zwischen der Existenz in der realen Geschichte und den idealen Möglichkeiten des Seins, die der Mensch zu denken vermag. Diese Ausweitung der Perspektive, die literatur- wie ideengeschichtlich in der Nachfolge der Dichtungen Matthias Claudius’ steht, ist daher auch als eine Metapher für die Vergeblichkeit einer Littérature engagée in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu verstehen.13

      Aus der Retrospektive der Nachkriegszeit unternimmt Gustav Regler den Versuch einer Einordnung seiner Arbeit als politischer Schriftsteller. Die metaphorische Funktion, welche die Grenze im Zusammenhang seiner Lebenserinnerungen hierbei gewinnt, hebt die Einsicht hervor, dass allem Trennenden stets ein Moment von Gewalt immanent ist. Einer Gewalt, mit der Menschen die Möglichkeiten anderer Menschen (aber auch ihre eigenen) einschränken und beschränken; einer Gewalt, die sowohl eine schirmende, schützende Funktion hat als auch limitierend wirkt. Durch das Zeugnis des eigenen Erlebens verleiht der Schriftsteller diesem humanistischen Gedanken eine Beglaubigung. Dass die autobiografische Darstellung zu Teilen von der historischen Wahrheit abweicht, sie verdichtet und überformt, stilisiert und inszeniert, ist für die Aussage wie Programmatik der literarischen „Lebensgeschichte“, wie Regler sein Werk im Untertitel charakterisiert, unerheblich.14

      Der

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