Internationales Strafrecht. Robert Esser
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Der Vertragsstaat hat jedenfalls sicherzustellen, dass sich der festgestellte Konventionsverstoß in zukünftigen, ähnlich gelagerten Fällen nicht wiederholt.[30] Dies gilt jedenfalls für die Person des konkreten Bf. Ob dieser Anspruch sich darüber hinaus auf alle der Hoheitsgewalt des Vertragsstaates unterstehenden Personen bezieht, ist dagegen ungeklärt. Dem Wesen eines Individualrechtsstreits immanent ist, dass Streitgegenstand und damit auch Umfang der sachlichen Rechtskraft eines Straßburger Urteils eng zu interpretieren sind und sich nur auf den entschiedenen Sachverhalt, den konkreten Bf. sowie den betroffenen Vertragsstaat beziehen.[31] Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, auf Seiten des Vertragsstaats von einer über den entschiedenen Streitgegenstand hinausgehenden völkerrechtlichen Befolgungspflicht aus Art. 46 EMRK auszugehen, deren innerstaatlicher Adressat sämtliche staatlichen Organe sind.[32]
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Wer beim Wiederholungsverbot im Interesse eines wirksamen Menschenrechtsschutzes eine Erstreckung auf gleichgelagerte nationale Fälle propagiert, die andere Personen betreffen, kann auf Dauer nicht erklären, warum das nicht auch für die Behebung bereits eingetretener Konventionsverstöße bei anderen Personen gelten soll, zumal man in der Aufrechterhaltung der Folgen eines bereits eingetretenen Konventionsverstoßes durchaus auch dessen aufrechterhaltende „Wiederholung“ sehen kann.[33] Darüber hinaus kann die Verbindlichkeit eines Urteils des EGMR für „Parallelfälle“ in dem betreffenden Vertragsstaat aus Art. 1 EMRK abgeleitet werden.[34] Auch wenn das Urteil den betroffenen Staat über Art. 46 EMRK nur für den entschiedenen Fall unmittelbar bindet, folgt eine darüber hinausreichende rechtliche Bindung des Staates daraus, dass dieser nach Art. 1 EMRK (und seine Organe nach Art. 59 Abs. 2 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG) zur Beachtung der Konvention verpflichtet sind, deren Inhalt durch die Urteile des EGMR konkretisiert wird.
3. Im Übrigen: Normative Leitfunktion
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Weder aus Art. 46 Abs. 1 EMRK noch aus Art. 1 EMRK lässt sich für die BR Deutschland als Vertragsstaat – geschweige denn für die deutschen Behörden und Gerichte als ihre Organe – eine unmittelbar völkerrechtlich verbindliche Bindung an die gegen andere Vertragsstaaten ergehenden Urteile (als solche) begründen. Art. 1 EMRK verpflichtet die Vertragsstaaten der EMRK aber dazu, den Konventionsrechten gegenüber seinen Bürgern Geltung zu verschaffen. Weil aber Art. 32 EMRK dem EGMR eine (nicht ausschließliche) Kompetenz für alle die Auslegung und Anwendung der Konvention nebst ihrer Zusatzprotokolle betreffenden Angelegenheiten zuweist und nicht nur diese Vorschrift sondern vor allem die einzelnen Garantien der EMRK über das Zustimmungsgesetz (Art. 59 Abs. 2 GG) Teil der deutschen Rechtsordnung geworden sind, besteht für die deutschen Gerichte und Behörden eine Pflicht, die gesamte Rechtsprechung des Gerichtshofs – d.h. den übertragungsfähigen Inhalt sämtlicher Urteile – bei der Auslegung und Anwendung der EMRK als Teil des nationalen Rechtes zu berücksichtigen.[35]
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Diese (innerstaatliche) Pflicht aller staatlichen Stellen zur Berücksichtigung der gesamten Spruchpraxis des EGMR hat das BVerfG verfassungsrechtlich über das Prinzip vom Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) abgesichert.[36] Nur auf diese Weise lassen sich Wertungswidersprüche zwischen der völkerrechtlich verbindlichen Achtung der EMRK im Außenverhältnis und ihrer Auslegung in der deutschen Rechtsordnung vermeiden.
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In diese Richtung hatte bereits 2002 das BVerwG[37] argumentiert, indem es feststellte, dass der Auslegung der Konvention durch den EGMR über den entschiedenen Fall hinaus eine „normative Leitfunktion“ zukommt, an der sich die Vertragsstaaten zu orientieren haben. Lässt sich aufgrund einer gefestigten Rechtsprechung des EGMR eine verallgemeinerungsfähige und allgemeine Gültigkeit beanspruchende Auslegung einer Konventionsbestimmung feststellen, haben dem die deutschen Gerichte vorrangig Rechnung zu tragen. Diese “Beachtenspflicht“ rechtfertige sich aus dem besonderen Charakter der Konvention als Menschenrechtsvertrag. Und weiter heißt es wörtlich:
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„Die Feststellungsurteile des Gerichtshofs besitzen neben einer subjektiven, auf die konkrete Beschwer im Einzelfall bezogenen Bedeutung zusätzliche objektive, auf Rechtsklärung gerichtete Elemente. Die kollektive Garantie der in der Konvention verbürgten Rechte bliebe weitgehend ineffektiv, wenn sich die Wirkungen einer in gefestigter Praxis herausgebildeten Normauslegung in der Entscheidung von Einzelfällen erschöpften“.
4. Pilotverfahren
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In der Regel nimmt der Gerichtshof nicht Stellung zu den Mitteln, mit denen eine Konventionsverletzung auf nationaler Ebene aufgehoben werden kann. Jedoch wurde beim Gerichtshof in der Vergangenheit häufig eine Vielzahl von Beschwerden mit demselben Beschwerdegegenstand anhängig gemacht, vor allem wenn ein bestimmtes Gesetz in allen unter die Norm fallenden Sachverhalten zu Verletzungen von Konventionsrechten führte oder bei sonstigen strukturellen Problemen (sog. repetitive cases).
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In diesen Fällen ist der Gerichtshof nach seinem Grundsatzurteil im Fall Broniowski[38] dazu übergegangen, an die verurteilten Staaten zur Wiedergutmachung des festgestellten Konventionsverstoßes konkrete Empfehlungen auszusprechen. Im Urteil Broniowski empfahl der EGMR dem polnischen Staat die (zusätzliche) Ergreifung allgemeiner Maßnahmen (general measures) gegenüber rund 80 000 von der behandelten konventionsrechtlichen Fragestellung (Entschädigung für Grundstücksverluste nach dem 2. Weltkrieg) ebenfalls betroffenen Personen – unabhängig von der Wiedergutmachung im konkreten Einzelfall, der Gegenstand der Beschwerde war.
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In der von der Rechtsprechung entwickelten sog. Pilot Judgment Procedure, die inzwischen in Rule 61 geregelt ist, greift der Gerichtshof eine von mehreren anhängigen vergleichbaren Beschwerden heraus und stellt in einem „pilot judgment“ fest, dass die gerügte Konventionsverletzung auf einem strukturellen Problem des Vertragsstaates beruht, etwa auf einer bestimmten konventionswidrigen Rechtsprechung oder verwaltungsrechtlichen Praxis oder auf einer mit der Konvention unvereinbaren nationalen Norm. Der verurteilte Staat soll daraufhin ein effektives Rechtsmittel vorsehen, das für alle potenziellen Bf. offen steht, die aufgrund desselben Defizits in ihren Rechten nach der Konvention verletzt sind Das Gericht beschreibt auch die Mittel, die der betroffene Staat ergreifen kann, um den konventionswidrigen Zustand zu beenden (Rule 61 Abs. 3). Die bereits anhängigen Beschwerden werden vorerst zurückgestellt, bis der Vertragsstaat entsprechende Maßnahmen ergriffen hat. Falls dies nicht innerhalb einer angemessenen Frist geschieht (Rule 61 Abs. 4), werden die Beschwerden wiedereröffnet (Rule 61 Abs. 6 lit. a, c; Abs. 8) und in einem summarischen Verfahren vor den Ausschüssen abgehandelt. Praktische Bedeutung hat die Pilot Judgment Procedure (lediglich) in Fällen schwerwiegender Konventionsverletzungen und wenn sich der innerstaatliche Missstand nicht auf andere