Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder

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Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang - Johann Gottfried Herder

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aber so wenig als ein Komet sagen für einen Philosophen von heutigem Geschmack. Wir müssen nach seiner Meynung in dem Buche, welches das thörichste Volk auf uns gebracht, und in den Überbleibseln der Griechen und Römer, so bald es auf Orakel, Erscheinungen, Träume und dergleichen Meteoren ankommt, diese Mährchen unserer Kinder und Ammen (denn Kinder und Ammen sind alle verfloßne Jahrhunderte gegen unser lebendes in der Kunst zu erfahren und zu denken) absondern, oder selbige als die Schnörkel unserer Alpendichter bewundern. Gesetzt, dieses würde alles so reichlich eingeräumt; als man unverschämt seyn könte es zu fordern: so wird Bayle, einer ihrer Propheten, zu dessen Füssen diese Kreter mit so viel Anstand zu gähnen gewohnt sind, weil ihr Gamaliel gähnt, diesen Zweiflern antworten; daß, wenn alle diese Begebenheiten mit dem Einfluß der Gestirne in gleichem Grade der Falschheit stehen, wenn alles gleichartig erlogen und erdacht ist, dennoch der Wahn, die Einbildung und der Glaube daran zu ihrer Zeit und an ihrem Ort würklich grössere Wunder veranlaßt habe und veranlassen könne, als man den Kometen, Orakelsprüchen und Träumen selbst jemals zugeschrieben hat noch zuschreiben wird. In diesem Verstande sollten aber die Zweifler mehr Recht als unsere Empyriker behalten, weil es menschlicher und Gott anständiger aussieht, uns durch unsere eigene Grillen und Hirngespinste, als durch eine so entfernte und kostbare Maschinerey wie das Firmament unseren blöden Augen vorkommt, zu seinen Absichten zu regieren.

      Zweyter Abschnitt.

       Inhaltsverzeichnis

      Ein Mann, der Geld zu verlieren hatte, und vermuthlich auch Geld zu verlieren verstand, den die Geschichte Kriton nennt, soll die Unkosten getragen haben unsern Bildhauer in einen Sophisten zu verwandeln. Wer der etymologischen Mine seines Namens traut, wird diesen Anschlag einem weitsehenden Urtheil, ein leichtgläubiger Schüler der täglichen Erfahrung hingegen einem blinden Geschmack an Sokrates zu schreiben.

      Die Reyhe der Lehrmeister und Lehrmeisterinnen, die man dem Sokrates giebt, und die Kriton ohne Zweifel besolden muste, ist ansehnlich genung; und doch blieb Sokrates unwissend. Das freche Geständniß darin war gewissermassen eine Beleidigung, die man aber dem aufrichtigen Klienten und Kandidaten scheint vergeben zu haben, weil sie auf ihn selbst am schwersten zurück fiel. Das Loos der Unwissenheit und die Blöße derselben macht eben so unversöhnliche Feinde als die Überlegenheit an Verdiensten und die Schau davon. War Sokrates wirklich unwissend, so muste ihm auch die Schande unwissend seyn, die vernünftige Leute sich ergrübeln, unwissend zu scheinen.

      Ein Mensch, der nichts weiß und der nichts hat, sind Zwillinge eines Schicksals. Der Fürwitzige und Argwöhnische zeichnen und foltern den ersten als einen Betrüger; wie der Gläubiger und Räuber den letzten, unterdessen der Bauerstolz des reichen Polyhistors beyde verachtet. Eben daher bleibt die philosophische Göttin des Glücks eine bewährte Freundinn des Dummen, und durch ihre Vorsorge entgehen die Einfälle des Armen den Motten länger als blanke Kleider und rauschende Schlafröcke, als die Hypothesen und Formeln der Kalender-System- und Projektmacher der Stern- und Staatsseher.

      Sokrates scheint von seiner Unwissenheit so viel geredt zu haben als ein Hypochondriaker von seiner eingebildeten Krankheit. Wie man dies Übel selbst kennen muß um einen Milzsüchtigen zu verstehen und aus ihm klug zu werden; so gehört vielleicht eine Sympathie der Unwissenheit dazu von der sokratischen einen Begrif zu haben.

      Erkenne dich selbst! sagte die Thür jenes berühmten Tempels allen denen, die hereingiengen dem Gott der Weisheit zu opfern und ihn über ihre kleinen Händel um Rath zu fragen. Alle lasen, bewunderten und wusten auswendig diesen Spruch. Man trug ihn wie der Stein, in den er gegraben war, vor der Stirn, ohne den Sinn davon zu begreifen. Der Gott lachte ohne Zweifel unter seinen güldenen Bart, als ihm die küzliche Aufgabe zu Sokrates Zeiten vorgelegt wurde: Wer der weiseste unter allen damals lebenden Menschen wäre? Sophokles und Euripides würden nicht so grosse Muster für die Schaubühne, ohne Zergliederungskunst des menschlichen Herzens, geworden seyn. Sokrates übertraf sie aber beyde an Weisheit, weil er in der Selbsterkenntnis weiter als jene gekommen war, und wuste, daß er nichts wuste. Apoll antwortete jedem schon vor der Schwelle; wer weise wäre und wie man es werden könne? jetzt war die Frage übrig: Wer Sich Selbst erkenne? und woran man sich in dieser Prüfung zu halten hätte? Geh, Chärephon, lern es von Deinem Freunde. Kein Sterblicher kann die Achtsamkeit und Entäusserung eines Lehrmeisters sittsamer treiben, als womit Apoll seine Anbeter zum Verstande seiner Geheimniße gängelte. Alle diese Winke und Bruchstücke der ältesten Geschichte und Tradition bestätigen die Beobachtung, welche Paulus und Barnabas den Lykaoniern vorhielten, daß Gott auch unter ihnen sich selbst nicht unbezeuget gelassen, auch ihnen vom Himmel Regen und fruchtbare Zeiten gegeben. Mit wie viel Wahrheit singt also nicht unsere Kirche:

      Wohl uns des feinen HErren!

      Ein sorgfältiger Ausleger muß die Naturforscher nachahmen. Wie diese einen Körper in allerhand willkührliche Verbindungen mit andern Körpern versetzen und künstliche Erfahrungen erfinden, seine Eigenschaften auszuholen; so macht es jener mit seinem Texte. Ich habe des Sokrates Sprüchwort mit der Delphischen Überschrift zusammen gehalten; jetzt will ich einige andere Versuche thun, die Energie desselben sinnlicher zu machen.

      Die Wörter haben ihren Werth, wie die Zahlen von der Stelle, wo sie stehen und ihre Begriffe sind in ihren Bestimmungen und Verhältnissen, gleich den Münzen nach Ort und Zeit wandelbar. Wenn die Schlange der Eva beweiset: Ihr werdet seyn wie Gott, und Jehova weissagt: Siehe! Adam ist worden als Unser einer; wenn Salomo ausruft: Alles ist eitel! und ein alter Geck es ihm nachpfeift: so sieht man, daß einerley Wahrheiten mit einem sehr entgegen gesetzten Geist ausgesprochen werden können.

      Überdem leidet jeder Satz, wenn er auch aus einem Munde und Herzen quillt, unendlich viel Nebenbegriffe, welche ihm die geben, so ihn annehmen, auf eben die Art als die Lichtstrahlen diese oder jene Farbe werden nach der Fläche, von der sie in unser Auge zurück fallen. Wenn Sokrates dem Kriton durch sein: Nichts weiß ich! Rechenschaft ablegte, mit eben diesem Worte die gelehrten und neugierigen Athenienser abwieß, und seinen schönen Jünglingen die Verleugnung ihrer Eitelkeit zu erleichtern, und ihr Vertrauen durch seine Gleichheit mit ihnen zu gewinnen suchte: so würden die Umschreibungen, die man nach diesem dreifachen Gesichtspunkte von seinem Wahlspruche machen müste, so ungleich einander aussehen, als bisweilen drey Brüder, die Söhne eines leiblichen Vaters sind.

      Wir wollen annehmen, daß wir einem Unbekannten ein Kartenspiel anböthen. Wenn dieser uns antwortete: Ich spiele nicht; so würden wir dies entweder auslegen müssen, daß er das Spiel nicht verstünde, oder eine Abneigung dagegen hätte, die in ökonomischen, sittlichen oder andern Gründen liegen mag. Gesetzt aber ein ehrlicher Mann, von dem man wüste, daß er alle mögliche Stärke im Spiel besässe und in den Regeln so wohl als verbotenen Künsten desselben bewandert wäre, der ein Spiel aber niemals anders als auf den Fuß eines unschuldigen Zeitvertreibes lieben und treiben könnte, würde in einer Gesellschaft von feinen Betrügern, die für gute Spieler gelten, und denen er von beyden Seiten gewachsen wäre, zu einer Parthey mit ihnen aufgefordert. Wenn dieser sagte: Ich spiele nicht, so würden wir mit ihm den Leuten ins Gesicht sehen müssen, mit denen er redet, und seine Worte also ergänzen können: » Ich spiele nicht, nämlich, mit solchen als ihr seyd, welche die Gesetze des Spiels brechen und das Glück desselben stehlen. Wenn ihr ein Spiel anbiethet; so ist unser gegenseitiger Vergleich den Eigensinn des Zufalls für unsern Meister zu erkennen, und ihr nennt die Wissenschaft eurer geschwinden Finger Zufall, und ich muß ihn dafür annehmen, wenn ich will, oder die Gefahr wagen euch zu beleidigen, oder die Schande wählen euch nachzuahmen. Hättet ihr mir den Antrag gethan mit einander zu versuchen, wer der beste Taschenspieler von uns in Karten wäre; so hätte ich anders antworten, und vielleicht mitspielen wollen, um euch zu zeigen, daß ihr so schlecht gelernt habt Karten machen, als ihr versteht die euch gegeben werden nach der Kunst zu werfen.«

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