Die größten Klassiker der deutschen Literatur: Sturm und Drang. Johann Gottfried Herder
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Die Unwissenheit des Sokrates war Empfindung. Zwischen Empfindung aber und einen Lehrsatz ist ein grösserer Unterscheid als zwischen einem lebenden Thier und anatomischen Gerippe desselben. Die alten und neuen Skeptiker mögen sich noch so sehr in die Löwenhaut der sokratischen Unwissenheit einwickeln; so verrathen sie sich durch ihre Stimme und Ohren. Wissen sie nichts; was braucht die Welt einen gelehrten Beweis davon? Ihr Heucheltrug ist lächerlich und unverschämt. Wer aber so viel Scharfsinn und Beredsamkeit nöthig hat sich selbst von seiner Unwissenheit zu überführen, muß in seinem Herzen einen mächtigen Wiederwillen gegen die Wahrheit derselben hegen.
Unser eigen Daseyn und die Existentz aller Dinge ausser uns muß geglaubt und kann auf keine andere Art ausgemacht werden. Was ist gewisser als des Menschen Ende, und von welcher Wahrheit gibt es eine allgemeinere und bewährtere Erkenntnis? Niemand ist gleichwol so klug solche zu glauben, als der, wie Moses zuverstehen giebt, von Gott selbst gelehrt wird zu bedenken, daß er sterben müsse. Was man glaubt, hat daher nicht nöthig bewiesen zu werden, und ein Satz kann noch so unumstößlich bewiesen seyn, ohne deswegen geglaubt zu werden.
Es giebt Beweise von Wahrheiten, die so wenig taugen als die Anwendung, die man von den Wahrheiten selbst machen kann; ja man kann den Beweiß eines Satzes glauben ohne dem Satz selbst Beyfall zu geben. Die Gründe eines Hume mögen noch so triftig seyn, und ihre Wiederlegungen immerhin lauter Lehnsätze und Zweifel: so gewinnt und verliert der Glaube gleich viel bey dem geschicktesten Rabulisten und ehrlichsten Sachwalter. Der Glaube ist kein Werk der Vernunft und kann daher auch keinem Angrif derselben unterliegen; weil Glauben so wenig durch Gründe geschieht als Schmecken und Sehen.
Die Beziehung und Übereinstimmung der Begriffe ist eben dasselbe in einer Demonstration, was Verhältnis und Symmetrie der Zahlen und Linien, Schallwürbel und Farben in der musikalischen Composition und Malerey ist. Der Philosoph ist dem Gesetz der Nachahmung so gut unterworfen als der Poet. Für diesen ist seine Muse und ihr Hieroglyphisches Schattenspiel so wahr als die Vernunft und das Lehrgebäude derselben für jenen. Das Schicksal setze den grösten Weltweisen und Dichter in Umstände, wo sie sich beyde selbst fühlen; so verleugnet der eine seine Vernunft und entdeckt uns, daß er keine beste Welt glaubt, so gut er sie auch beweisen kann, und der andere sieht sich seiner Muse und Schutzengel beraubt, bey dem Tode seiner Meta. Die Einbildungskraft, wäre sie ein Sonnenpferd und hätte Flügel der Morgenröthe, kann also keine Schöpferinn des Glaubens seyn.
Ich weiß für des Sokrates Zeugnis von seiner Unwissenheit kein ehrwürdiger Siegel und zugleich keinen bessern Schlüssel als den Orakelspruch des grossen Lehrers der Heyden:
Ει δε τις δοκει ειδεναι τι ουδεπω ουδεν εγνωκε καθως δει γνωναι Ει δε τις αγαπα τον ΘΕΟΝ ουτος εγνωται υπ αυτον.
So jemand sich dünken läßt, er wisse etwas, der weiß noch nichts, wie er wissen soll. So aber jemand Gott liebt, der wird von ihm erkannt. –
– – als Sokrates vom Apoll für einen Weisen. Wie aber das Korn aller unserer natürlichen Weisheit verwesen, in Unwissenheit vergehen muß, und wie aus diesem Tode, aus diesem Nichts das Leben und Wesen einer höheren Erkenntniß neugeschaffen hervorkeimen; so weit reicht die Nase eines Sophisten nicht. Kein Maulwurfshügel, sondern ein Thurn Libanons muß es seyn der nach Damesek gaft.
Was ersetzt bey Homer die Unwissenheit der Kunstregeln, die ein Aristoteles nach ihm erdacht, und was bey einem Shakesspear die Unwissenheit oder Übertretung jener kritischen Gesetze? Das Genie ist die einmüthige Antwort. Sokrates hatte also freylich gut unwissend seyn; er hatte einen Genius, auf dessen Wissenschaft er sich verlassen konnte, den er liebte und fürchtete als seinen Gott, an dessen Frieden ihm mehr gelegen war, als an aller Vernunft der Egypter und Griechen, dessen Stimme er glaubte, und durch dessen Wind, (wie der erfahrne Wurmdoctor Hill uns bewiesen) der leere Verstand eines Sokrates so gut als der Schoos einer reinen Jungfrau, fruchtbar werden kann.
Ob dieser Dämon des Sokrates nichts als eine herrschende Leidenschaft gewesen und bey welchem Namen sie von unsern Sittenlehrern geruffen wird, oder ob er ein Fund seiner Staatslist; ob er ein Engel oder Kobold, eine hervorragende Idea seiner Einbildungskraft, oder ein erschlichner und willkührlich angenommener Begrif einer mathematischen Unwissenheit; ob dieser Dämon nicht vielleicht eine Quecksilberröhre oder den Maschinen ähnlicher gewesen, welchen die Bradleys und Leuwenhoeks ihre Offenbarungen zu verdanken haben; ob man ihn mit dem wahrsagendem Gefühl eines nüchternen Blinden oder mit der Gabe aus Leichdornen und Narben übelgeheilter Wunden die Revolutionen des Wolkenhimmels vorher zu wissen, am bequemsten vergleichen kann: hierüber ist von so vielen Sophisten mit so viel Bündigkeit geschrieben worden, daß man erstaunen muß, wie Sokrates bey der gelobten Erkenntniß seiner Selbst, auch hierinn so unwissend gewesen, daß er einem Simias darauf die Antwort hat schuldig bleiben wollen. Keinem Leser von Geschmack fehlt es in unsern Tagen an Freunden von Genie, die mich der Mühe überheben werden weitläuftiger über den Genius des Sokrates zu seyn.
Aus dieser sokratischen Unwissenheit flüssen als leichte Folgen die Sonderbarkeiten seiner Lehr- und Denkart. Was ist natürlicher, als daß er sich genöthigt sahe immer zu fragen um klüger zu werden; daß er leichtgläubig that, jedes Meynung für wahr annahm, und lieber die Probe der Spötterey und guten Laune als eine ernsthafte Untersuchung anstellte; daß er alle seine Schlüsse sinnlich und nach der Ähnlichkeit machte; Einfälle sagte, weil er keine Dialectick verstand; gleichgültig gegen das, was man Wahrheit hieß, auch keine Leidenschaften, besonders diejenigen nicht kannte, womit sich die Edelsten unter den Atheniensern am meisten wusten; daß er wie alle Idioten, oft so zuversichtlich und entscheidend sprach, als wenn er, unter allen Nachteulen seines Vaterlandes, die einzige wäre, welche der Minerva auf ihrem Helm säße – – Es hat den Sokraten unsers Alters, den kanonischen Lehrern des Publicums und Schutzheiligen falsch berühmter Künste und Verdienste noch nicht glücken wollen, ihr Muster in allen süssen Fehlern zu erreichen. Weil sie von der Urkunde seiner Unwissenheit unendlich abweichen; so muß man alle sinnreichen Lesearten und Glossen ihrs antisokratischen Dämons über unsers Meisters Lehren und Tugenden als Schönheiten freyer Übersetzungen bewundern; und es ist eben so mislich ihnen zu trauen als nachzufolgen.
Jetzt fehlt es mir an dem Geheimnisse der Palingenesie, das unsere Geschichtschreiber in ihrer Gewalt haben, aus der Asche jedes gegebenen Menschen und gemeinen Wesens eine geistige Gestalt heraus zu ziehen, die man einen Charakter oder ein historisch Gemälde nennt. Ein solches Gemälde des Jahrhunderts und der Republik, worinn Sokrates lebte, würde uns zeigen, wie künstlich seine Unwissenheit für den Zustand seines Volkes und seiner Zeit, und zu dem Geschäfte seines Lebens ausgerechnet war. Ich kann nichts mehr thun als der Arm eines Wegweisers und bin zu hölzern meinen Lesern in dem Laufe ihrer Betrachtungen Gesellschaft zu leisten.
Die Athenienser waren neugierig. Ein Unwissender ist der beste Arzt für diese Lustseuche. Sie waren, wie alle neugierige, geneigt mitzutheilen; es muste ihnen also gefallen, gefragt zu werden. Sie besassen aber mehr die Gabe zu erfinden und vorzutragen, als zu behalten und zu urtheilen; daher hatte Sokrates immer Gelegenheit ihr Gedächtnis und ihre Urtheilskraft zu vertreten, und sie für Leichtsinn und Eitelkeit zu warnen. Kurz, Sokrates lockte seine Mitbürger aus den Labyrinthen ihrer gelehrten Sophisten zu einer Wahrheit, die im Verborgenen liegt, zu einer heimlichen Weisheit, und von den Götzenaltären ihrer andächtigen und staatsklugen Priester zum Dienst eines unbekannten Gottes. Plato sagte es den Atheniensern ins Gesicht, daß Sokrates ihnen von den Göttern gegeben wäre sie von ihren Thorheiten zu überzeugen und zu seiner Nachfolge in der Tugend aufzumuntern. Wer den Sokrates