Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
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Entscheidender sind aber zwei Einwände. So zeigt sich erstens die fortbestehende Bedeutung und Notwendigkeit staatlicher Strukturen dort, wo diese mehr oder weniger fehlen, wo der Staat also entweder im Zerfallen |26|begriffen oder sogar bereits zerfallen ist. In Staaten wie Somalia, dem Jemen, Simbabwe oder Libyen herrschen so prekäre und zum Teil kriegsähnliche Zustände, weil mit dem Untergang des Staates keine anderen Herrschaftsstrukturen an dessen Stelle getreten sind, die für die notwendige Ordnung hätten sorgen können.[156] Welche hätten das in diesen Fällen auch sein können? Das Völkerrecht hat solchen Entwicklungen nichts oder nur wenig entgegenzusetzen und kann aus sich heraus keine ordnende Struktur gestalten. Ähnliches gilt in Sierra Leone oder Afghanistan, wo nach dem Abzug der Alliierten Mitte 2021 die Taliban innerhalb weniger Wochen wieder die Macht an sich reißen konnten. Staatenlosigkeit bleibt damit „für jedermann auch weiterhin eine beängstigende Vorstellung“.[157] Die Auflösungserscheinungen staatlicher Souveränität sind nur bis zu einem gewissen Grade ertragbar und setzen voraus, dass der sich auflösende Staat in seinen Kernfunktionen (Friedenssicherung und Bereitstellung der fundamentalen Infrastruktur) funktionsfähig bleibt. Wo der Staat aufhört, hört auch die Freiheit auf. Die Auflösung des Staates findet damit im funktionsfähigen Staat Grundlage und Grenze. Paradoxerweise wird die Diskussion und wissenschaftliche Auseinandersetzung über das Ende des Staates und seine Auflösung auch ausschließlich in Staaten geführt, in denen die grundlegenden staatlichen Strukturen die erforderliche Funktionsfähigkeit zur Aufrechterhaltung von Sicherheit und Freiheit aufweisen. Überspitzt formuliert: Über die langsame Auflösung des Staates und sein Aufgehen in überstaatlichen Strukturen (nicht zuletzt die Europäische Union) nachzudenken, kann sich nur erlauben, wer in einem halbwegs funktionierenden Staatswesen lebt. Dieser Befund bestätigt zugleich, dass wir auf ein solches zumindest aktuell (noch) nicht verzichten können und nicht verzichten wollen. Das zeigten auch die Debatten, die im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise seit 2015 aufkamen. Wo staatliche Strukturen tatsächlich oder vermeintlich bedroht wurden, wurde versucht, entsprechende Bedrohungen umgehend abzuwehren und Staatlichkeit (und Staatsgrenzen) zu sichern.[158]
Mit dieser weiterhin ordnenden Funktion des Staates hängt der zweite Einwand zusammen. In den letzten Jahren zeigt sich, dass ein beachtlicher Teil der skizzierten Steuerungsverluste auf einem freiwilligen Rückzug des Staates beruhte:[159] Es war der Staat, der Zuständigkeiten und |27|Steuerungsmöglichkeiten abgab, nicht die Globalisierung, die sie sich nahm. Es handelte sich um keinen natürlichen, passiven und unumkehrbaren Erosionsprozess, sondern um eine vornehmlich auf neoliberalen Vorstellungen beruhende, bewusste, aktive politische Entscheidung – getroffen von im Grundsatz voll funktionsfähigen (souveränen) Staaten.[160] Es erscheint damit schon im Ansatz fraglich, ob es sich als sinnvoll erweist, von Souveränitätsverlusten zu sprechen, wo es häufig nur um die möglicherweise extern motivierte, aber formal gleichwohl freiwillige Abgabe von Hoheitsrechten geht und es an den Staaten selbst liegt, diese – sofern erwünscht – wieder rückgängig zu machen.[161] „Sie [die Globalisierung, A. T.] ist vor allem auch politisch gestaltbar, zähmbar“[162] und zwar, so wäre zu ergänzen, durch den stets vorhandenen Staat selbst.[163] „Deglobalisierung“ ist möglich, da der Staat im Hintergrund weiterhin latent vorhanden ist (was im Übrigen auch von den neoliberalen Akteuren nicht geleugnet wird, wenn sie „bei jedem auffälligen Marktversagen, wie eben den einstürzenden Finanzmärkten, nach staatlicher Unterstützung“[164] rufen). Dass eine solche Rückgängigmachung nicht nur eine theoretische Option, sondern auch praktisch durchführbar ist, zeigte sich seit 2016 gleich mehrfach: Die USA verkündeten nicht nur den Austritt aus dem Klimaabkommen, sondern kündigten zudem Freihandelsabkommen oder stellten diese in Frage und setzten mit Donald Trump vermehrt auf unilaterale Entscheidungen und weniger auf internationale Kooperation. Das Vorgehen Großbritanniens offenbarte, dass nicht einmal vermeintlich „auf Ewigkeit errichtete“ supranationale Organisationen vor dem (souveränen) Staat sicher |28|sind.[165] Es hat mit Ablauf des 31. Januar 2020 (gefolgt von einer zum 1.1.2021 abgelaufenen Übergangsphase)[166] die Europäische Union verlassen – einen im weltweiten Maßstab ohnehin rein regionalen Zusammenschluss:[167] „Taking back Control“, Wiedererlangung der abgegebenen Hoheitsrechte (nicht aber der im Hintergrund stets vorhandenen Souveränität), bildete in beiden Fällen das Leitmotiv. Die Vorgänge in anderen Staaten zeigen, dass diese Beispiele Nachahmer finden könnten, da die sozialen Auswirkungen der Globalisierung zunehmend skeptisch gesehen und bisweilen heftig kritisiert werden. Hier wird man einen wesentlichen Grund für das Erstarken rechtspopulistischer Strömungen in den meisten demokratischen Verfassungsstaaten finden können. Ohnehin dürfte es kein Zufall sein, dass entsprechende Renationalisierungstendenzen gerade zu einem Zeitpunkt auftreten, in denen das international globalisierte (wirtschaftliche) System dem Versprechen weltweiter Prosperität bei sozialer Gerechtigkeit nicht in ausreichender Form nachkommt.[168] Große Teile der Bevölkerung wenden sich dann wieder zum Staat, der in der unmittelbaren Nachkriegszeit – allerdings unter heute nicht mehr gültigen Rahmenbedingungen[169] – mit einer ausgewogenen Balance zwischen Markt und Sozialstaat schon einmal bewiesen hat, dass er diese Aufgabe zu bewerkstelligen vermag.[170] Diese bereits seit einigen Jahren zu konstatierende Rückkehr des Staates hängt insofern eng mit der defizitären (sozialen) Leistungsfähigkeit der sich seit den 90er Jahren entwickelnden internationalen Ordnung zusammen und hat damit (bei allem unseriösen, verstörenden und mittlerweile beendeten[171] „Getwittere“ eines Donald Trump) einen rationalen und nachvollziehbaren Ausgangspunkt. Die Legitimität jeder Herrschaftsordnung hängt unter anderem von (sozialen) Output-Elementen, von der Verwirklichung materieller Gerechtigkeit ab.[172] Es verwundert daher nicht, wenn der lange so vehement propagierte Rückzug des Staates auch „staatsintern“ |29|zunehmend kritisch gesehen wird, da der Rückgriff auf die „effizienten Märkte“ auch hier nicht zu den Ergebnissen geführt hat, die man sich in sozialer Sicht möglicherweise erhofft hat – die Stichworte „Rekommunalisierung“ und „sozialer Wohnungsbau“ sollen an dieser Stelle genügen. In den Jahren 2020/2021 war es schließlich die Coronapandemie, die verdeutlicht hat, welche Einflussmöglichkeiten der moderne Staat weiterhin hat:[173] Milliarden von Menschen wurden in den Lockdown geschickt, das kulturelle und soziale Leben kam mehr oder weniger zum Stillstand, Grenzen wurden geschlossen. Auch Steffen Mau hält daher zutreffend fest: „Der Staat ist kein Statist der Globalisierung, kein schwacher, ohnmächtiger Akteur, der den Phänomenen der Grenzüberschreitung nur unbehelligt zuschauen kann. Ganz im Gegenteil: Seine oft verborgene und zurückgenommene Macht trat in der Pandemie unübersehbar hervor.“[174] Von diesem pandemiebedingten staatlichen Zugriff blieb auch die internationale Wirtschaftsordnung nicht verschont – auch diese beruht nicht auf Naturgesetzlichkeiten, sondern auf politischen und damit umkehrbaren Entscheidungen.[175] Wer sie erhalten will, muss sich auf die politische Debatte einlassen; die Ausgestaltung der Handelsbeziehungen versteht sich nicht von selbst, die Staaten können frei entscheiden, inwieweit sie an ihnen partizipieren oder ihnen gar eine völlig andere Struktur geben wollen.
Man mag diese Wiederbelebung des (souveränen) Staates aufgrund der neuartigen und zweifellos sozial ungerecht ausgestalteten Abschottungstendenzen[176] ablehnen – der späte Zygmunt Baumann sprach kritisch von einem „Zeitalter der Nostalgie“[177] in das wir eingetreten sind – und daher für dessen Überwindung eintreten.[178] Allein gegenwärtig ist der Staat weiterhin auch im Innern der bedeutendste politische Akteur,[179] oder mit Erhard Eppler: „Das nächstbessere Modell hat noch niemand entworfen“.[180] Die Vorstellung, dass die Globalisierung mit der umfassenden Aufhebung nationaler Grenzen |30|einhergehen würde, war ohnehin zu pauschal und richtete den Blick zu einseitig-idealistisch auf wenige privilegierte Bevölkerungsgruppen des globalen Nordens.[181] Es geht aktuell damit also weniger um die Überwindung des modernen Staates als um die Einhegung eines destruktiven und autoritären Nationalismus,[182] der mit dem modernen Staat zwar zusammengehen kann, aber nicht zusammengehen muss[183] – das beweist der Blick in die Historie. Der Nationalismus ist wie der Nationalstaat eine Idee des 19. Jahrhunderts,