Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
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Eine moderne Allgemeine Staatslehre muss die geschilderten transformatorischen Veränderungen und den damit einhergehenden Wandel von Staatlichkeit,[195] den „Staat als Prozess“[196] selbstverständlich aufnehmen und verarbeiten.[197] Sie kommt nicht ohne Abschnitte zur Internationalisierung, zur Supranationalisierung[198] und zu gesellschaftlichen Machtverschiebungen aus[199] – in der Coronapandemie kam zuletzt verstärkt die Frage auf, welche Rolle ExpertInnen in einer Demokratie zukommen sollte (beziehungsweise |32|darf)[200] – und muss sich zudem zu (vermeintlichen) globalisierungsbedingten Steuerungsverlusten verhalten:[201] Bedarf es als Antwort möglicherweise mehr Supranationalisierung? Wie verhält sich die Abgabe von Befugnissen an entsprechende Organisationen zur Legitimität der staatlichen Ordnung? Wie können Verlierer der Globalisierung ansprechend entschädigt werden? Festzuhalten aber bleibt: Ihren Gegenstand als solchen hat die Allgemeine Staatslehre bisher nicht verloren,[202] die räumlich-fundierte Staatsgewalt hat ihre zentrale Bedeutung nicht eingebüßt.[203] Es geht mithin darum „den evidenten Wandel von Staatsaufgaben, des Staatsverständnisses, der Staatsfinanzierung und einzelner Staatsfunktionen usw. näher zu beschreiben und zu analysieren“[204] und, so wäre zu ergänzen, auch zu kritisieren. Welche Rolle kann ein gewandelter, „offener“ moderner Staat im Zeitalter der Globalisierung spielen und welche Rolle sollte er – auch und gerade für die Gestaltung der Wirtschaftsordnung[205] – spielen? Diese Aufgabe kann der Allgemeinen Staatslehre schon deshalb gut gelingen, weil ihr zu keinem Zeitpunkt ein einheitlicher, abgeschlossener und Veränderungen nicht zugänglicher Staatsbegriff zugrunde lag. Wie Andreas Voßkuhle festgestellt hat, hätten weder Hermann Heller (Staat als organisierte Entscheidungs- und Wirkungseinheit) noch Hans Kelsen (Staat als Rechtsordnung) größere Probleme damit gehabt, die geschilderten Entwicklungen in ihre Staatslehre zu integrieren.[206] Für Carl Schmitt oder auch Ernst Forsthoff gilt das freilich nicht.
Fußnoten
Das gilt natürlich im Besonderen für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Dazu etwa A. Reckwitz, Gesellschaft der Singularitäten, 2017.
Vgl. S. Breuer, Der Staat, S. 10: „Im Zuge seiner Eingliederung in internationale Ordnungen und Vertragswerke hat der souveräne Nationalstaat darüber hinaus so viele seiner Kompetenzen abgeben müssen, dass manche Beobachter sein Ende einläuten.“ Historisch ist die These vom Ende des Staates freilich keine neue, vgl. A. Benz, Der moderne Staat, S. 259 ff.
Vgl. auch S. Hobe, Der offene Verfassungsstaat zwischen Souveränität und Interdependenz, S. 25.
Vgl. M. Zürn, Schwarz-Rot-Grün-Braun: Reaktionsweisen auf Denationalisierung, in: U. Beck, Politik der Globalisierung, S. 297 (298, 326). Siehe auch C. Crouch, Postdemokratie revisited, S. 25.
Zum Konzept der Souveränität knapp H. Zapf, Souveränität – Ideengeschichtliche Genese, Krisendiagnosen und Herausforderungen, in: L. Bahmer u.a., Staatliche Souveränität im 21. Jahrhundert, S. 1 ff.
Siehe auch die Hinweise auf Literatur bei R. Hirschl/A. Shachar, Spatial Statism, ICON 17 (2019), 387 (387 f.).
Vgl. dazu auch S. Oeter, Souveränität ein überholtes Konzept, in: Festschrift für Helmut Steinberger, S. 259 (259 f.). Oeter sieht in der Idee der Souveränität im Ergebnis allerdings gerade aus der Perspektive des Völkerrechtlers kein überholtes Konzept. Siehe auch C. Crouch, Postdemokratie revisited, S. 26.
E. Grande, in: Auflösung, Modernisierung oder Transformation? Zum Wandel des modernen Staates in Europa, in: E. Grande/R. Prätorius (Hrsg.), Modernisierung des Staates?, S. 45 (58). Siehe auch C. Starck, Allgemeine Staatslehre in Zeiten der Europäischen Union, in: ders. (Hrsg.), Woher kommt das Recht, S. 353 (353).
M. Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 14.
Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, S. 65. Zustimmend M. Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 14.
Z. Bauman, Intimations of Postmodernity, S. 65.
U. Di Fabio, Herrschaft und Gesellschaft, S. 3. Kritische Besprechung bei W. Knöbl, Besprechung von Udo Di Fabio, Herrschaft