Allgemeine Staatslehre. Alexander Thiele
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Territoriale Abgrenzung und Entpersonalisierung. Im Zusammenhang mit der Konfessionalisierung stand die Territorialisierung der Herrschaft, die sich fortan vornehmlich über ihr Staatsgebiet und weniger über die konkrete Person des Herrschers definierte. Es kam zu einer Entpersonalisierung, der Staat wurde zur Körperschaft, deren nicht zuletzt territoriale Existenz vom Herrscher unabhängig war – nach dem Tode Karls des Großen war dessen Reich noch wie selbstverständlich unter den Nachkommen aufgeteilt worden. Die seitdem entstehenden „festen“ Grenzen waren aber vornehmlich räumliche Abgrenzungen der Herrschaftsgewalt und keine für Menschen physisch unüberwindbaren Barrieren. Anfangs waren es |48|angesichts der vorherrschenden ökonomischen Theorie – dem Merkantilismus – auch weniger fremde Menschen, die auf dem eigenen Staatsgebiet unerwünscht waren als aus dem Ausland stammende Waren. Aktuell scheint es im „entfesselten und globalisierten Kapitalismus“ umgekehrt zu sein.[276] Grenzenlos ist die Welt heute allenfalls für einen kleinen Kreis privilegierter Personen, während der Großteil praktisch überall außen vor bleibt. Die Grenze ist als „Sortiermaschine“[277] im 21. Jahrhundert insofern präsenter denn je: „Den Prozess der Globalisierung in seinem Kern als Entgrenzung zu verstehen, ist daher vereinseitigend, aus meiner Sicht sogar irreführend.“[278] Der moderne Staat hat seine Territorialität in Zeiten der Globalisierung nicht verloren, die unzähligen Menschen, die vor Grenzen „gesammelt, rückgestaut oder aufgehalten“[279] werden, legen davon Zeugnis ab.
Gestaltung durch Gesetzgebung. War die Ordnung des Mittelalters noch vornehmlich eine erkennende, wurde sie mit der Entdeckung der Vernunft zunehmend zu einer vom Menschen selbst vor allem durch Recht gestalteten Ordnung:[280] Der moderne Staat ist Gesetzgebungsstaat. Damit übernahm der Herrscher zugleich die Verantwortung für die Ausgestaltung dieser Ordnung: Er konnte gestalten, aber nunmehr musste er auch gestalten. Es fanden sich umfangreiche Regelungen zur „guten Policey“ mit denen der Herrscher versuchte, sowohl die Gefahrenabwehr als auch die allgemeine Wohlfahrtspflege zu organisieren und nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Die neuen Ordnungen ließen kaum einen Bereich aus und reichten von der Kleiderordnung bis hin zum schicklichen Verhalten in der Öffentlichkeit. Allerdings verlief dieser Prozess in den einzelnen Staaten unterschiedlich. In Großbritannien und den USA wird man der Gesetzgebung erst Ende des 19. Jahrhunderts eine größere Rolle zusprechen können.[281]
Ausbildung einer zentralen Bürokratie. Die Gestaltung durch Gesetze aber auch die Konfessionalisierung bedurfte der konkreten Umsetzung innerhalb des gesamten Territoriums der einzelnen Staaten. Nach dem Vorbild der katholischen Kirche entwickelte sich eine zentralisierte Verwaltung, die im Übrigen auch von technischen Neuerungen (wie der Postkutsche) profitierte. Verwaltung ist auch heute der Aspekt von Staatlichkeit, dem |49|die BürgerInnen am häufigsten begegnen: „Der Alltag von Herrschaft ist Verwaltung.“[282] Die effiziente Ausgestaltung der Verwaltungsstrukturen und ihre allgemeine Funktionsfähigkeit sind daher bis heute wesentliche Bausteine für die Anerkennung der Herrschaftsordnung durch die Herrschaftsunterworfenen, also die Legitimität derselben.
Errichtung eines stehenden Heeres. Mit der Veränderung der Kriegsführungstechniken ging eine professionellere Organisation der militärischen Verteidigung einher. Ausgehend von den Niederlanden und Schweden wurde der besoldete und unter Waffen stehende Soldat, der auch in Friedenszeiten seine Stellung behält, zum neuen militärischen Standard. Dazu bedurfte es eines umfassenden militärischen Verwaltungsapparates und entsprechender Infrastruktur (vor allem über das gesamte Territorium verteilte Kasernen). Das Militär wurde zu einem wirksamen Macht- und Symbolfaktor des zentral agierenden Herrschers (Frankreich, Preußen). In vielen Staaten kommt dem Militär bis heute eine erhebliche Integrationskraft selbst in Friedenszeiten zu (USA, Frankreich). In Deutschland ist das aus historischen Gründen anders.
Umfassende Steuerfinanzierung. Im Mittelalter kam der Herrscher im Wesentlichen selbst für die Kosten der Herrschaft auf. Die Finanzierung des modernen, gestaltenden und verwaltenden Staates war auf diesem Wege nicht mehr zu leisten. Im Laufe der Zeit trat daher die Steuer als dauerhafte Einnahmequelle an die Stelle der Selbstfinanzierung: Der moderne Staat ist Steuerstaat.[283] Diese Entwicklung war für den Prozess der Parlamentarisierung und damit den demokratischen Verfassungsstaat bedeutend. Die Ständevertretungen, die für die Bewilligung der Steuern verantwortlich zeichneten, waren die Vorläufer der heutigen Parlamente. Das Budgetbewilligungsrecht bildet weiterhin eine der parlamentarischen Kernkompetenzen.
Staatsvolk? Ein formales Staatsvolk, eine formale Staatsangehörigkeit kannte der moderne Staat lange Zeit nicht. Die Herrschaft war im Wesentlichen nicht personal, sondern territorial organisiert – zumindest wenn man auf die zentrale staatliche Ebene blickt.[284] Auch die Konfession ließ sich nicht als Staatsangehörigkeitsersatz interpretieren, schon weil es nur zwei (später drei) unterschiedliche Konfessionen gab[285] und diese zudem prinzipiell frei wählbar waren. Erst die Demokratiebewegung begründete das Bedürfnis ein irgendwie geartetes Volk von anderen Völkern abzugrenzen.[286] Die Idee, die in diesem Zusammenhang geboren beziehungsweise |50|„erfunden“[287] wurde, war die der Nation – ein mehr als folgenreiches Konzept für den modernen Staat.[288]
2. Der Nationalstaat als zentrale moderne (gescheiterte) Kategorie
Die modernen Staaten sind heute praktisch ausschließlich als Nationalstaaten konstruiert,[289] kennen neben einer nationalen Staatsangehörigkeit eine Nationalhymne, eine Nationalflagge sowie weitere nationale Symbole und sind – bis auf wenige Ausnahmen – in den Vereinten Nationen international organisiert.[290] Daraus wird bereits ersichtlich, dass sich dem Umstand Nationalstaat zu sein noch nichts über die innere Organisation des jeweiligen Staates entnehmen lässt. Handelt es sich um ein demokratisches oder ein autoritäres Regime, um eine Monarchie oder eine Republik? Entgegen den Vorstellungen der ersten Nationalisten hat sich das Konzept des Nationalstaats als überaus flexibel erwiesen und verträgt sich prinzipiell mit praktisch jeder innerstaatlichen Ordnung.[291] Auch ist es – noch nicht einmal in Europa – weder gelungen die einzelnen Nationen überschneidungsfrei voneinander abzugrenzen geschweige denn jeder dieser Nationen als Ausgangspunkt einer friedlichen nationalstaatlichen Weltordnung ihren eigenen Staat zuzuweisen. In jedem Nationalstaat finden sich bis heute ethnische, religiöse oder sonstige Minderheiten, mit denen die Nationalstaaten umgehen müssen, was mal besser und mal schlechter gelingt; teilweise wird durch extreme Assimilierungspolitiken versucht, die Unterschiedlichkeiten zugunsten einer erwünschten Homogenität des Staatsvolkes (gewaltsam) zu unterdrücken, in anderen Fällen werden die Minderheiten schlicht aus der Öffentlichkeit verbannt und in Arbeitslager gesteckt (so etwa die Uiguren in der Volksrepublik China). Etliche Nationen fühlen sich bis heute um ihren eigenen Nationalstaat betrogen (Kurden, Katalanen, Schotten). Faktisch bleibt der Vielvölkerstaat insofern die staatliche Normalität. Mit anderen Worten: Das Konzept des Nationalstaats wird man als im Kern gescheitert ansehen müssen. Die Idee der Nation hat zwar beachtliche Leistungen im Hinblick auf die Entwicklung des demokratischen Verfassungsstaates geleistet. Eine zentrale Aufgabe der Allgemeinen Staatslehre sollte es nun jedoch sein, Möglichkeiten aufzuzeigen, den Nationalstaat (nicht aber Staatlichkeit an sich) zu überwinden und Staatsmodelle zu entwickeln, die besser geeignet sind, die |51|heutigen komplexen staatlichen Integrationsaufgaben zu meistern und die die Schwierigkeiten, die mit dem Nationsbegriff verknüpft sind, vermeiden.[292]
3. Der demokratische Verfassungsstaat
Ein solches Modell kann der demokratische Verfassungsstaat sein, der sich mit der amerikanischen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts herausbildete[293] und sich dann in mehreren Wellen[294] über den Erdball ausbreitete.[295] Anders als der Nationalstaat ist er im Hinblick auf die innere Struktur des Staates nicht mehr neutral und damit das anspruchsvollere Modell:[296] Er beruht auf der Idee der gleichen (politischen) Freiheit aller als dem demokratischen Grundversprechen und setzt daher neben dem Ausgang der gesamten Staatsgewalt vom Volk die Aufteilung dieser Staatsgewalt auf unterschiedliche Institutionen (Gewaltenteilung), die