Geh's noch Gott?. Paulus Terwitte

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Geh's noch Gott? - Paulus Terwitte

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du mich einen Weg führen, den ich mir nicht ausgesucht habe, aber ich werde auch dann und dort einen Weg finden.“

      Die Frage „Wo ist eigentlich Gott, wenn mir etwas genommen wird?“ ist berechtigt, ja. Ich bin Seelsorger, ich habe sie oft genug gehört. Und gleichzeitig versuche ich diese Frage immer umzubiegen. Sich nicht zu fokussieren auf diese Fragen: Warum ist das passiert? Bin ich schuldig gewesen? Woher kommt das? Kann ich vielleicht etwas entdecken? Nein, die Frage „Warum?“ ist eigentlich die Frage „Wozu?“, also woraufhin soll mich das öffnen, was jetzt da gerade passiert? Wofür soll ich aufgeschlossen werden? Und Leben heißt eben nicht, festzuhalten und zu sagen: Ich behalte alles, so wie es ist. Sondern Leben bedeutet eben vor allen Dingen auch loszulassen und dann einen neuen Schritt zu gehen.

      Dass Gott zuständig gemacht wird für die Zustände, die wir haben, dass Gott zuständig gemacht wird dafür, dass alles so bleibt, wie es ist, ist ja auch eine merkwürdige Vorstellung. Denn wenn alles so bleiben würde, wie es ist, gäbe es überhaupt keine Entwicklung. Und dass Wandlung Schmerz bedeutet, kann eine Mutter bestätigen, die ein Kind zur Welt bringt. Dass Wandlung Schmerz bedeutet, können Eltern feststellen, wenn ihr Kind aus dem Haus auszieht. Dass Wandlung Schmerz bedeutet, das wissen alle Menschen, die ihre Arbeit verloren haben und neu anfangen müssen. Es gilt, das zu bejahen und zu lernen, dass es Wandlungen gibt. Oder wie der Beter sagt: „Ich nehme alles an aus Gottes Hand.“ In einem anderen Gebet heißt es: „Gott legt mir nie ein so schweres Kreuz auf, dass ich es nicht tragen könnte.“ Ein solches Grundvertrauen, ein solches Glaubensvertrauen gehört mit zum Grundbestand des spirituellen Lernens.

      Wut zu haben, ist völlig normal: „Mensch, dass mir das jetzt passiert!“ oder „Gott, warum lässt du das zu?“ In diesem ersten Trennungsschmerz muss ich das sagen, und ich weiß, dass es sich irgendwann wandeln wird zu einem Akt der Hingabe.

      „Ich nehme mich täglich an, Gott, aus deiner Hand, und wie es auch verfügt ist in meinem Leben – nennen wir das Schicksal oder wie auch immer –, ich nehme es an und versuche, mit deiner Kraft daraus etwas Neues zu kreieren.“

      Leben heißt eben nicht, festzuhalten und zu sagen: Ich behalte alles, so wie es ist.

      Sondern Leben bedeutet vor allen Dingen auch loszulassen und dann einen neuen Schritt zu gehen.

      Was ist das Geheimnis eines erfüllten Lebens?

      Wer Mensch wird, der hat es die ersten neun Monate echt gut! Der wird rundum versorgt und entwickelt sich und muss sich um gar nichts kümmern. Er wird durch die Gegend getragen, hört Geräusche und kommt so langsam ins Leben. Das nennt der Psychoanalytiker Sigmund Freud die intrauterine Einheit des Kindes mit der Mutter. Das Kind ist ganz eins mit der Mutter, und dann kommt der Trennungsvorgang während der Geburt. Da lernt das Kind, dass es eben nicht die Mutter ist, sondern ein eigenständiger Mensch. Und es muss langsam lernen, Schritt für Schritt, dass dieses rundum erfüllte Leben, diese Rundumversorgung, nicht Leben ist. Sondern Leben ist, dass ich aus dieser Rundumversorgung heraus in meine Aufgabe hineingeboren werde, in eine Welt, die mich auf gar keinen Fall so befriedigen wird wie meine Mutter es im Mutterschoß getan hat.

      Alice Miller, die große Kinderpsychologin, hat darüber lange geforscht, wie der Individuationsprozess im menschlichen Leben geht, das heißt wie ein Kind merkt, dass es nicht Mama ist. Das geht dann schon los, wenn es Hunger hat und die Brust nicht sofort kriegt. Warten … Hunger haben … nicht sofort den Wunsch erfüllt kriegen. Es gehört mit zu einer guten Erziehung, dass ich Schritt für Schritt einem Individuum, einem Wesen, einem Menschen klarmache: Die Welt ist nicht dazu da, dass sie dir zu Füßen liegt wie die Plazenta, an der du angedockt warst. Wenn ich das richtig beobachte, erlebe ich Menschen, die das Gefühl haben: Eigentlich ist die Welt dafür da, dass sie mir alle Wünsche erfüllt. Miller hat in ihren Untersuchungen festgestellt, woran das liegt, dass Menschen sich nicht wirklich von dieser tiefen Sehnsucht verabschieden können, dass ihnen immer alles zu Füßen liegen muss: Wenn es nämlich zu traumatischen Erfahrungen kommt, wenn also dieser Prozess der Abnabelung nicht Schritt für Schritt passiert, sondern wenn Kinder aus vertrauter Elternbeziehung herausgerissen werden, weil sie zum Beispiel wegen einer Krankheit in Krankenhäusern sein müssen. Dann werden sie zu schnell in das Unversorgtsein, zu schnell in diesen Zustand, dass die Wünsche nicht alle erfüllt werden, hineingerissen. So kommt mir das manchmal wirklich vor, wenn ich Menschen begegne, die eine wahnsinnige Vorstellung davon haben, was ein erfülltes Leben ist.

      Was ist denn ein erfülltes Leben? Ein erfülltes Leben kann meines Erachtens nicht daher kommen, dass ich alle Wünsche erfüllt bekomme. Sondern ein erfülltes Leben fängt da an, wo ich es schaffe, aus diesen Wünschen in die Hingabe zu kommen. Wenn es mir gelingt, aus diesem Ich-Bezug (Alles für mich!) auszusteigen und zu erfahren, dass, wenn ich der Welt oder den Menschen etwas gebe, wenn ich einen anderen Menschen glücklich mache, dieses Glück dann zu mir kommt. „Vom Geben ist noch keiner arm geworden“, hat unsere Großmutter gesagt, weltkriegserfahren. In dieser Erkenntnis steckt eine ganz alte, tiefe Menschheitserfahrung: dass ich dann am erfülltesten lebe, wenn ich mich auspowere. Das kann man im Fitness-Studio ja sehen: Die Leute powern sich aus, die Jogger powern sich aus und merken, dass sie tolle Sachen machen können! Das hat letztlich mit unserer Grundstimmung zu tun: Wenn wir sinnvoll Kraft verströmen, werden wir stärker. Was heißt sinnvoll? Das Wort Sinn heißt ja, dass ich einen Weg gehe, wo ich ein Ziel vor Augen habe, das ich verfolge. Ein erfülltes Leben ist deswegen nach der Aussage der alten Asketen dann zu finden, wenn ich mich beschränke um einer guten Entscheidung willen, für die ich alle Kraft einsetze.

      Auf der Suche nach einem erfüllten Leben ist es deshalb wichtig, dass ich erst mal alle Träume, die ich habe, in den Schrank stelle – alles, was hätte sein können, hätte sein müssen in meinem Leben und mit vielen Ansprüchen an andere: an die Welt, an die Sonne, an den Kosmos, an den lieben Gott und sonst wie. Dann ist Zeit, mich zu fragen: Für wen oder für was will ich mich eigentlich einsetzen? Ich weiß aus vielen Gesprächen natürlich auch, dass man nicht einfach wie in einer Art Supermarkt auswählen kann, für dies und für das möchte ich mich einsetzen. Du hast ja selber schon genug Herausforderungen in deinem Leben, aber du kannst den Umgang mit ihnen bestimmen. Du wirst ein erfülltes Leben finden, wenn du in der Lage bist, in aller Freiheit dir als deine Aufgabe anzueignen, was sich dir in den Lebensweg stellt.

      Ich begleite Eltern, die behinderte Kinder ins Leben hineinführen, und für die war das natürlich eine große Herausforderung, das anzunehmen. Sie erzählen mir dann auch manchmal, dass es durchaus so unerleuchtete Zeitgenossen gibt, die sich nicht entblöden, den Eltern zu sagen: „Das ist ja auch wirklich eine große Belastung, immer dieses Kind zu umsorgen.“ Die Eltern haben dann alle Hände voll zu tun, dem Gesprächspartner zu sagen: „Es ist schon nicht immer leicht, aber es ist eine für mich erfüllende Aufgabe, dem Leben so zu dienen, wie es mir geschenkt worden ist.“ Wow, was für ein Satz, oder? Dem Leben so zu dienen, wie es mir geschenkt worden ist.

      Seien wir doch mal ehrlich: Haben wir uns die Sachen ausgesucht? Ja, ich habe auch eine Grundentscheidung getroffen, dass ich in einen Orden eintreten will. Aber was mir da alles passiert ist und was es da an Herausforderungen gibt, das habe ich mir weiß Gott nicht ausgesucht. Doch ich nehme es an, weil es mit dieser Grundentscheidung zusammenhängt. Und es kann ein erfüllendes Leben sein, wenn ein Partner / die Partnerin beim Unfall querschnittsgelähmt wurde. Sie jetzt die nächsten dreißig Jahre einfach zu umhegen, zu umsorgen und mit ihr auf dem Weg zu sein. Das kann ein erfülltes Leben werden, wenn der Partner diese Aufgabe wirklich in Freiheit angenommen hat, diesen Menschen ein Leben lang begleiten zu wollen. Das ist doch das, was uns immer wieder zum Staunen bringt: dass es Menschen gibt, die einfach bei ihrer Sache bleiben und sich weiter drum kümmern. Sie sagen nicht: „Ich bin dann mal weg!“ und denken sich, das Gras auf der anderen Seite des Zaunes sei grüner, da würde man schneller ein erfülltes Leben finden.

      Ich kenne leider auch Menschen, die schon das dritte Studium angefangen haben und

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