Das Neue Testament - jüdisch erklärt. Группа авторов

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Das Neue Testament - jüdisch erklärt - Группа авторов страница 20

Das Neue Testament - jüdisch erklärt - Группа авторов

Скачать книгу

rabbinische Auslegung als Traditionsliteratur erzählt die Geschichte des Volkes Israel, während die christlichen Texte als Autorenliteratur überwiegend die Geschichte nicht der Kirche, sondern einzelner Gestalten darstellen (z.B. das Martyrium des Polykarp, das Leben des hl. Antonius). Keine einzelne Figur, nicht einmal Mose, wird in der jüdischen Literatur so herausgestellt wie Jesus in den neutestamentlichen Evangelien und der späteren christlichen Literatur.

      Das Ausmaß, in dem die Evangelien tatsächlich berichten, „was wirklich geschah“, kann nicht aufgeklärt werden. Obwohl die Texte auf den Erinnerungen der Anhängerinnen und Anhänger Jesu basieren, passten Lehrer und Erzähler sie stets den Bedürfnissen ihres jeweiligen Publikums und ihrem eigenen Verständnis davon an, wer Jesus war und was er zu vollbringen suchte. Darüber hinaus ist zu bedenken, dass Jesus auf Aramäisch gelehrt hat und dies ins Griechische übertragen wurde. Orte, an denen die Handlungen Jesu entweder explizit oder implizit auf die Heiligen Schriften Israels anspielen, sind besonders problematisch für Historikerinnen und Historiker, die das Leben Jesu rekonstruieren wollen. Folgte Jesus selbst – oder Ereignisse in seinem Leben – den Modellen dieser Texte, oder modellierten spätere Verfasser seine Lebensgeschichte nach diesen Mustern? Die synoptischen Berichte über Jesu Tod spielen intensiv auf Ps 22 an und zitieren ihn sogar. Manche Fachleute fragen (sich) nun, ob die Evangelisten die Passionsgeschichte im Lichte dieses Psalms komponierten oder ob die Ereignisse am Kreuz selbst die Verse des Psalms abbildeten.

      Die Evangelien spiegeln auch die Erinnerung der Gemeinde(n), die von den Schriften Israels beeinflusst ist, die mündliche Ausschmückung der Geschichten über Jesus im Laufe der ersten Jahrzehnte nach seinem Tod und die Bedürfnisse der Evangelisten sowie ihrer Leserinnen und Leser wider. Allein die Tatsache, dass verschiedene Quellen innerhalb des Neuen Testaments über so grundlegende Fragen wie die, was Jesus während des Letzten Mahles sagte (die Einsetzungsworte), unterschiedliche Angaben machen, zeigt, dass die Christusgläubigen sich mehr um die grundlegende Substanz oder Bedeutung seiner Lehren sorgten als um die wörtliche Wiedergabe seiner Worte (s. Mt 26,26–29; Mk 14,22–25; Lk 22,19–20; 1Kor 11,23–26 und ähnliche Aussagen außerhalb des Kontexts des Letzten Abendmahls, Joh 6,48–60). Nicht nur die Worte Jesu, sondern auch seine Taten werden unterschiedlich dargestellt, und auch hier wiederum ist die Frage nach der Historizität der Überlieferung komplex und umstritten. Gab es z.B. zwei von Dämonen besessene Männer in einem Ort namens Gadara, wo das Ertränken einer Herde Schweine einem Exorzismus durch Jesus zugeschrieben wird (Mt 8,28–34), oder ist Gerasa der Ort des Geschehens, wo ein einzelner Besessener geheilt wird (Mk 5,1–20)? Und um die Angelegenheit weiter zu verkomplizieren: Wurde die zuletzt genannte Geschichte angesichts der Tatsache, dass gerasch im Hebräischen „vertreiben, austreiben“ heißt, die Dämonen in einer Anspielung auf das Römische Reich „Legion“ genannt werden und eines der Symbole für die römischen Truppen (Legio X Fretensis), die Jerusalem im Ersten Jüdischen Krieg eroberten, ein Eber war, als Allegorie ausgestaltet? In ähnlicher Weise fragen sich Gelehrte, die das wirkliche Leben Jesu rekonstruieren wollen: Unterbrach Jesus den Tempeldienst bereits zu einem frühen Zeitpunkt seines Lebens (Joh 2,15–16) oder erst zu Beginn seiner letzten Woche in Jerusalem (so die Synoptiker – s. Mt 2,12–13 // Mk 11,15–17 // Lk 19,45–46), oder tat er dies zweimal, wobei er jedes Mal etwas anderes sagte?

      Ob man die Evangelien als „Geschichtsbücher“ versteht, hängt oft auch an der religiösen Einstellung des Auslegers oder der Auslegerin. Einige Leserinnen und Leser sind der Auffassung, dass die Wunder, die Jesus und seinen Nachfolgern zugeschrieben werden, genau so passierten wie von den Evangelien und der Apostelgeschichte beschrieben, während andere diese Berichte eher als moralische oder zeitgebundene theologische Erzählungen denn als historische Berichte ansehen. Die gleichen historischen Fragen kann man auch auf verschiedene jüdische Quellen anwenden: Soll man den Schöpfungsbericht am Anfang der Genesis einschließlich des Sechstagewerks wörtlich verstehen? Arbeitete Abraham als Kind in der Werkstatt seines Vaters, in der Götterbilder hergestellt wurden (BerR 38), oder wurde dieser Midrasch verfasst, um die Weisheit bereits des jungen Patriarchen zu verdeutlichen?

      Wie man ein Evangelium lesen sollte

      Jedes Evangelium erzählt seine eigene Geschichte und sollte daher auch individuell gelesen werden; erst im nächsten Schritt sollten die verschiedenen Berichte miteinander verglichen werden (die Kommentare geben häufig die Parallelstellen an). Solche Vergleiche arbeiten die verschiedenen Ansätze der einzelnen Evangelisten heraus und zeigen zugleich auf, wie dieselbe Geschichte verschiedene Botschaften transportieren kann, wenn sie auf unterschiedliche Weise erzählt wird. Einige werden bei ihrer Lektüre jeden einzelnen Abschnitt des jeweiligen Evangeliums auskosten wollen, Erzähleinheit um Erzähleinheit (der griechische Ausdruck für solche Einheiten ist perikopē, „um etwas herum schneiden“, „ausschneiden“); andere werden den ganzen Text in einem Durchgang lesen wollen. Manche werden erst den Text lesen und dann auf die Kommentare und die Essays, auf die querverwiesen wird, zurückkommen wollen; andere werden eine intensive und umfassende Lektüre bevorzugen, bei der sie jede Anmerkung und Erläuterung genau prüfen.

      Einige Leserinnen und Leser sind möglicherweise mehr an Charakteren und Themen als an den Texten der Evangelien in ihrer rekonstruierten Abfolge interessiert. Sie könnten sich etwa auf die Beschreibungen der Apostel (auch als „die Zwölf“ bekannt), Marias, der Mutter Jesu, der zahlreichen Nebenfiguren (z.B. Nikodemus in Joh 3, die Samaritanerin in Joh 4, Maria und Martha in Lk 10 und Joh 11–12, Josef von Arimathäa) und der politischen Akteure (Herodes d.Gr., Herodes Antipas, Pontius Pilatus, Kaiphas und Annas) konzentrieren.

      Angesichts der Konzentration dieses Bandes auf die jüdischen Kontexte und Inhalte des Neuen Testaments möchten andere Leserinnen und Leser sich vielleicht auch erst den Beschreibungen der jüdischen Feste (Sabbat, Pesach, Schawuot, Chanukka), Lebensregeln (z.B. Speisegebote, Synagogenbesuch und Toralesung, Reinheitsgebote, Pilgerfeste) und Gruppen (Pharisäer, Sadduzäer, Anhänger des Täufers Johannes) zuwenden.

      Alle Leserinnen und Leser tun gut daran, sich bei ihrer Lektüre zu vergegenwärtigen, wie der erzählerische Kontext der Evangelien ihr eigenes Verständnis Jesu von Nazareth beeinflusst. Jesus polemisierte vermutlich gegen andere Juden: Dies taten im Laufe der Jahrhunderte aber auch Mose und Elia, Jesaja und Jeremia, Hillel und Schammai usw. In dem Augenblick jedoch, in dem die Worte Jesu Teil der Evangelien wurden und diese wiederum die Heilige Schrift einer bald mehrheitlich nichtjüdischen Kirche, wurden und werden ursprünglich innerjüdische Diskussionen allzu häufig aus ihrem historischen Kontext herausgelöst und als externe Verurteilungen des zeitgenössischen bzw. des ganzen Judentums gelesen. Ob bereits die Evangelien an und für sich anti-jüdisch waren, bleibt Gegenstand lebendiger Diskussionen; was wir aber mit Sicherheit sagen können, ist, dass sie von Christen bald anti-jüdisch interpretiert wurden. Wir verbinden mit diesem Buch die Hoffnung, dass es zu einer größeren Sensibilität aller Leserinnen und Leser beitragen möge, wie diese Texte im Laufe der Geschichte gewirkt haben, im positiven wie negativen Sinn. Ebenso hoffen wir, dass alle Leserinnen und Leser ungeachtet ihres religiösen Hintergrundes bei der Lektüre der Evangelien auch die jüdische Geschichte entdecken, die in ihnen enthalten ist, und die jüdischen Wurzeln der Bewegung erkennen, die später zur christlichen Kirche wurde.

Скачать книгу