Mythologie für Dummies. Christopher W. Blackwell
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Volksmärchen
Volksmärchen sind überlieferte Erzählungen, die zum einen der Unterhaltung dienten und zum anderen bisweilen auch didaktische Ziele verfolgten. In Volksmärchen erleben die Helden Abenteuer und magische Geschehnisse. Für gewöhnlich gibt es in ihnen jedoch keine Passagen, die menschliche Beziehungen mithilfe des Übernatürlichen oder Göttlichen erklären wollen.
Die meisten Mythen weisen Elemente aus Legenden und Sagen auf und umgekehrt. Diese unterschiedlichen Gattungsbezeichnungen sind durchaus nützlich, wenn es darum geht zu entscheiden, wann es sich um einen Mythos handelt und wann nicht. Man sollte sich aber nicht zu sehr darauf fixieren.
Märchen wiederum sind Mythen und Volkserzählungen sehr ähnlich. Es gibt aber einen Unterschied: Die Märchen sind ein Phänomen der romantischen Bewegung im Europa des 19. Jahrhunderts, als zum Beispiel die Brüder Grimm begannen, von den Bewohnern einer Region mündlich überlieferte Geschichten zu sammeln, aufzuschreiben und in romantisierter Form breiten Leserschichten zugänglich zu machen. Die Originale von Grimms Märchen wiederum haben nur wenig mit den bereinigten, modernen Fassungen zu tun – die Originalversionen sind voll von Blut und Gewalt.
Was war zuerst da – die Menschen oder der Mythos?
Die Menschen hatten nicht immer Zugang zu dicken Büchern, die sich ausführlich mit der Mythologie etwa der Griechen oder anderer Völker befassten. Sie konnten also nicht einfach mal eben so die Mythen nachlesen. Dennoch ist es gelungen, Jahrtausende alte Erzählungen und Geschichten bis in die Gegenwart zu bewahren. Vor der Erfindung der Schrift waren es insbesondere das gesprochene Wort und die künstlerische Darstellung, die die Mythen vor dem Vergessen bewahrten. Nach der Erfindung der Schrift begannen die Menschen, die Mythen aufzuschreiben. Bis in unsere jüngste Vergangenheit gab es für Schriftsteller nichts Aufregenderes, als neue Geschichten nach dem Vorbild alter Mythen zu erfinden.
Die mündliche Überlieferung
Mythen sind Geschichten. Früher wurden sie hauptsächlich mündlich nacherzählt und weitergegeben. Wenn Geschichten so von einer Generation zur nächsten wandern, spricht man von mündlicher Überlieferung.
Wo es keine Möglichkeit gibt, Informationen in schriftlicher Form zu speichern, ist die mündliche Überlieferung eine von zwei Arten, Wissen von einer zur nächsten Generation weiterzugeben. (Die andere ist die Kunst; ihr werden wir uns gleich zuwenden.)
In Gesellschaften, die über eine lange Tradition mündlicher Überlieferung verfügen, haben die Menschen normalerweise ein sehr gutes Gedächtnis. In Kulturen dagegen, in denen die Schrift verbreitet ist, benötigen die Individuen kein besonders ausgeprägtes Erinnerungsvermögen, weil es ja neben vielen anderen Möglichkeiten zum Beispiel Bücher, Broschüren, Notizzettel (und nicht zuletzt Dummies-Bände) gibt, die helfen, sich an wichtige Dinge zu erinnern, die die Menschen sonst vielleicht vergessen würden. Gesellschaften dagegen mit starker mündlicher Überlieferung bewahren das zu Erinnernde oft in Form von Gedichten oder Liedern, einfach weil man es sich so leichter Wort für Wort merken kann.
Mythen entstammen ursprünglich ausschließlich dieser oralen Tradition. Sie wurden immer mündlich weitererzählt. Jede Veränderung an ihnen geschah auf diesem Wege des Erzählens. Da jede Mythen produzierende und Mythen erzählende Generation über ihre eigenen spezifischen Bedürfnisse und Erfahrungen verfügt, neigen Mythen dazu, sich im Laufe der Zeit zu verändern. Am Schluss einer solchen Entwicklung liegt dann ein und derselbe Mythos in mehreren Versionen vor.
Der heutige E-Mail-Austausch im Internet stellt vielleicht eine moderne Form der mündlichen Überlieferung dar. Geschichten können heute leicht von Computernutzer zu Computernutzer auf der ganzen Welt wandern. Auf ihrem im Prinzip keine Zeit mehr beanspruchenden Weg erfahren sie dabei immer wieder leichte Veränderungen. Vielleicht haben ja einige dieser Geschichten im Internet das Zeug dazu, später einmal zu den Mythen des 21. Jahrhunderts zu werden.
Der Mythos und die Archäologie
Menschen, die weder schreiben noch lesen können, sind nicht nur imstande, Geschichten zu erzählen, sondern sie können zum Beispiel auch Kunstwerke herstellen. Die bildlich darstellende Kunst ist eine weitere Möglichkeit, Mythen von einer Generation zur nächsten weiterzugeben; sie müssen nicht unbedingt niedergeschrieben werden. Kunstwerke können ihre Schöpfer durchaus Jahrtausende überdauern. Selbst nach einer so langen Zeit sind Archäologen in der Lage, Fundstücke von längst untergegangenen Kulturen auszugraben, zu restaurieren und zu deuten. Damit Mythen auf diese Weise bewahrt werden können, muss es sich nicht unbedingt um aufwendige oder raffinierte Kunstwerke handeln. Schon gewöhnliche Alltagsgegenstände sind oft mit dekorativen Szenen versehen, die dem Archäologen viel über die betreffende Kultur verraten können (ein besonders schönes Beispiel hierfür können Sie in Kapitel 9 nachlesen).
Literatur
Mit der epochalen Erfindung der Schrift aber wurden auch die Mythen schließlich in schriftlicher Form niedergelegt. Die Dichtung Homers etwa – eine eminent wichtige Quelle für unser Wissen über die griechische Mythologie – hat ihren Ursprung in mündlich überlieferten Liedern, die öffentlich von Sängern vorgetragen wurden. Diese Liedtexte und Verserzählungen wurden später aufgeschrieben und konnten somit nachgelesen werden. Die Mythenexperten streiten sich noch heute endlos darüber, wie zum Beispiel im Falle Homers das mündlich überlieferte Material in einer bestimmten Version (und nicht etwa einer anderen, die es sicher gegeben hat) den Weg aufs Papier beziehungsweise auf den Papyrus fand.
Mythographen gab es schon in der Antike. Sie schrieben die Mythen für spätere Generationen auf.
Mythen dienten in der Vergangenheit immer wieder als Anregung für andere Arten von Literatur. Sehr viele griechische Tragödien, ursprünglich niedergeschrieben, um als Bühnenstück aufgeführt zu werden, griffen auf Stoffe und Motive der damaligen Mythologie zurück. In späterer Zeit war es zum Beispiel William Shakespeare, der sich beim Entwurf vieler seiner dramatischen Werke auf mythologische Geschichten stützte, wobei er sich der Mythologien des Mittelmeerraumes ebenso bediente wie der Mythen nordeuropäischer Herkunft. In seinem Stück Ein Mittsommernachtstraum spielt die Handlung am Hofe des griechischen Königs Theseus zum Zeitpunkt seiner Heirat mit der Königin der Amazonen Hippolyte (mehr dazu in Kapitel 7). Shakespeares Stück Romeo und Julia entlehnt seine Handlung der Geschichte von Pyramus und Thisbe, die in Ovids Metamorphosen geschildert wird (vergleiche Kapitel 12).
In jüngster Vergangenheit haben Wissenschaftler versucht, mündlich überlieferte Mythen und Sagen gezielt ausfindig zu machen mit der Absicht, sie aufzuschreiben und zu erforschen. Anthropologen und Ethnologen besuchten dazu etwa die indigenen Völker Brasiliens oder andere noch weitgehend unerforschte Naturvölker. Sie ließen sich deren Geschichten erzählen und schrieben sie anschließend auf. Diese schriftlich