Systemische Beratung der Gesellschaft. Ruth Seliger
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Veränderung durch Erkenntnis
»Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun!« 29
Humberto Maturana und Francisco Varela
Andere Erklärungen für die Entwicklung und Veränderung der Gesellschaft werden in den intellektuellen Fähigkeiten des Homo sapiens gesehen, der die Welt, in der er lebt, nicht nur zu erkennen vermag, sondern diese Welt durch Erkenntnis neu entwerfen und das eigene Leben darin gestalten und verändern kann.
Der Historiker Yuval Harari sieht die wesentlichen Impulse für gesellschaftliche Umwälzungen in drei großen intellektuellen Entwicklungsschritten der Menschheit:
1)Die kognitive Revolution begann mit der Entwicklung der Sprache (vor circa 70.000 Jahren). Sprache hat die Welt für uns Menschen vollkommen verändert und erweitert. Das Besondere an der menschlichen Sprache ist die Möglichkeit und Fähigkeit, mit ihrer Hilfe extrem viel Information zu sammeln. Sprache machte möglich, dass Menschen sich über ihren bisherigen Lebens- und Denkrahmen hinaus austauschen konnten. Durch Sprache konnten Geschichten und konnte Geschichte entstehen und über Generationen und Regionen hinweg weitererzählt werden. Komplexe Situationen konnten besprochen und Kooperationen entwickelt werden. Sprache ermöglicht Abstraktion.
»Das Einmalige ist, dass wir uns über Dinge austauschen können, die es gar nicht gibt.«30
Durch Sprache konnte reflektierendes Ich-Bewusstsein entstehen, die Worte »Ich« und »Wir« sind Ergebnisse einer – sprachlichen – Selbstbeobachtung und Selbstunterscheidung, oder, wie Heinz von Foerster es ausdrückt: Begriffe zweiter Ordnung. Die Entwicklung der Sprache hat die Gesellschaft massiv verändert: Die Welt erhielt eine Geschichte, entwickelte größere Stämme und mehr Territorium.
2)Durch die landwirtschaftliche Revolution vor circa 10.000 Jahren setzte – ausgelöst durch neue Erkenntnisse über die Natur und ihre Nutzung –, das Sesshaftwerden der Menschen ein. Wandern, Jagen und Sammeln wurden von Sesshaftigkeit, Tierzucht und -haltung und Ackerbau abgelöst. Neue Formen der Sicherung von Lebensgrundlagen entstanden: Lagerung von Überschüssen, Bildung von Eigentum und die Entwicklung von Hierarchie mit dem Ziel, das neue, komplexere Leben zu ordnen. Diese Revolution ist bis heute die bestimmende Grundlage unseres gesellschaftlichen Lebens und Wirtschaftens.31 Auf dieser Grundlage sind Städte, Nationen, Handel und Religionen entstanden. Einen großen Umbruch der Gesellschaft markiert der Beginn der Neuzeit, der durch die wissenschaftliche Revolution eingeleitet wurde.
3)Die wissenschaftliche Revolution des 15. und 16. Jahrhunderts löste eine fundamentale Veränderung der Gesellschaft aus: Neue Technologien und fundamentale naturwissenschaftliche Entdeckungen brachten vollkommen neue Weltbilder hervor und lösten die Bedeutung von Religion und Kirche als Instanz der Welterklärung ab. Die wissenschaftliche Revolution wurde durch Nikolaus Kopernikus eingeleitet, der ein neues Weltbild zeichnete, das dem der Kirche fundamental widersprach: Die Kirche sah die Erde im Zentrum des Universums, die Sonne umkreist die Erde. Laut Kopernikus steht die Sonne im Mittelpunkt unseres Universums, die Erde kreist als einer ihrer Planeten um sie, wie später Galileo Galilei bestätigte und weiter erforschte. Diese Erkenntnis, ausgelöst durch den Blick durch ein Fernrohr, war Gottes- bzw. Kirchenlästerung. Dafür wurde er von der katholischen Kirche bestraft und entkam nur knapp seiner Hinrichtung.32
Alle diese großen Umbrüche – so kann man schließen – wurden durch Entwicklungen des Gehirns und der wachsenden geistigen Fähigkeiten der Menschen ausgelöst. Die letzte dieser drei Revolutionen leitete die »Moderne«, die europäische Neuzeit, ein und bestimmt bis heute unser westliches Weltbild: das naturwissenschaftlich-technische Paradigma.
Gesellschaftliche Veränderung ist Veränderung der materiellen Lebensbedingungen
»It’s the economy, stupid!« 33
James Carville
Der Begriff Ökonomie beschreibt die Formen der Sicherung des Lebens der Menschen und deren materielle Grundlage: von der Herstellung über die Verteilung und Verbreitung materieller Güter – also Produktion, Handel, Konsumation von materiellen Gütern bis zur Verteilung des materiellen Wohlstands, der daraus entsteht. Die wissenschaftliche Ökonomie hat zahlreiche Konzepte und Modelle hervorgebracht, die die Veränderungen des gesellschaftlichen Wirtschaftens beschreiben. Es sind Modelle, keine Wahrheiten.
Karl Marx entwickelte eine auf Adam Smiths Arbeiten beruhende Theorie der Ökonomie und stellte die These auf, dass die Ökonomie die Grundlage aller gesellschaftlichen Entwicklungen ist. Es ist das gesellschaftliche »Sein«, das das »Bewusstsein« und damit das Handeln der Menschen bestimmt. In dieser »materialistischen« Tradition entwickelte der russische Ökonom Nikolai Kondratieff eine »Wellen-Theorie«, die auf der These basiert, ökonomische Veränderungen seien Treiber der gesellschaftlichen Veränderungen.34 Er beschreibt die Entwicklung der modernen Ökonomie als wellenförmige, zyklische Prozesse, die nach ihm benannten Kondratieff-Zyklen, die immer wiederkehrende Phasen des Wachstums, des Niedergangs und der Erneuerung sind (siehe Abb. 9).
Die ökonomischen Wellenbewegungen werden jeweils durch neue Produktionsmittel und Technologien ausgelöst und dauern in der modernen Industriegesellschaft etwa 40–60 Jahre: Die Dampfmaschine beendete beispielsweise die agrarisch geprägte Ökonomie; sie ermöglichte die erste Industriegesellschaft und die Massenproduktion von Gütern. Die nächste Welle wurde durch die Erfindung des Stahls ausgelöst, wodurch vollkommen neue und stabilere Güter erzeugt werden konnten. Die Nutzung von Elektrizität und Chemie führte zur dritten großen Welle der ökonomischen Entwicklung, die wieder neue Industrien und Produkte, aber auch neue Lebensformen hervorbrachte.
Abb. 9: Kondratieff-Zyklen35
Kondratieffs Wellenmodell beginnt bei der Dampfmaschine und endet vorläufig mit der vierten ökonomischen Welle der Nutzung fossiler Energiequellen. Jede Welle weist einen Prozess der Veränderung auf: vom beginnenden Wohlstand (»prosperity«) über einen Rückgang des Wohlstands (»recession«) zur ökonomischen Krise und Depression (»depression«) bis hin zu einem erneuten Aufschwung, einer Verbesserung (»improvement«) der Wirtschaft.
Der deutsche Zukunftsforscher und Mitglied des Club of Rome Leo A. Nefiodow setzt auf diesem Modell auf und prognostiziert eine sechste Welle, ausgelöst durch die neuen Informationstechnologien. Seine Prognose für die Zukunft lautet: Das 21. Jahrhundert wird das Zeitalter der Kooperation sein, nachdem die Phasen davor eine so hohe Komplexität von Ökonomie und Gesellschaft geschaffen haben, dass die daraus entstehenden Probleme nur durch Kooperationen gelöst werden können. Diese Theorie wurde von vielen Ökonomen aufgegriffen.36
Auch der Ökonom Jeremy Rifkin sieht die Ökonomie als Treiber von gesellschaftlichen Veränderungen, allerdings nur dann, wenn noch weitere Faktoren dazukommen:
»Die wesentlichen ökonomischen Umwälzungen der Geschichte haben einen gemeinsamen Nenner: Alle erfordern sie drei Elemente, die im wechselseitigen Miteinander das Funktionieren des Systems als Ganzes ermöglichen: ein Kommunikationsmedium, eine Energiequelle und einen Transportmechanismus.«37
Der