Systemische Beratung der Gesellschaft. Ruth Seliger

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Systemische Beratung der Gesellschaft - Ruth Seliger Systemische Horizonte

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für mich selbst einen Begriff der Transformation zu definieren, habe ich mich mit unterschiedlichen Modellen von Veränderungen auseinandergesetzt und versuche, sie zu beschreiben und zu unterscheiden. Dazu habe ich drei Modelle oder Konzepte herangezogen:

       das technische Modell

       das dialektische Konzept

       das systemische Konzept.

       1.1Das technische Modell: Gesellschaft als Maschine und Veränderung als Reparatur

      Maschinen werden von Ingenieuren entwickelt. Eine Maschine ist von Anfang an mit den Intentionen und Gestaltungsmöglichkeiten ihrer Erfinder und Erfinderinnen ausgestattet, sie bekommt ihre Form und ihre Standards des Funktionierens gleichsam in die Wiege gelegt. Eine Maschine soll sich auch nicht verändern. Veränderung bedeutet bei einer Maschine: Sie ist kaputt, sie hat eine Panne.

      Pannen sind Ausnahmen von den »normalen« Zuständen und Funktionsprozessen, wie sie vom Ingenieur geplant sind und werden als Störung definiert. Die Beseitigung der Panne dient der Wiederherstellung des normalen Funktionierens der Maschine. Pannen werden zunächst auf ihre Ursachen untersucht und dann möglichst repariert. Durch Reparatur verschwindet das Problem, der Prozess kann ungestört weiterlaufen (siehe Abb. 1): Die Waschmaschine wäscht wieder, das Auto fährt wieder, die Rakete fliegt weiter zum Mond.

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      Abb. 1: Technisches Verständnis von Veränderung

      Dem technischen Modell liegen Annahmen zugrunde: Jedes Problem hat eine Ursache, für jedes Problem gibt es eine Lösung, für jede Lösung gibt es ein Werkzeug. Das klingt bestechend einfach und einleuchtend. Dieser Ansatz wurde und wird allerdings nicht nur auf Maschinen, sondern auf alle Fragen des Lebens angewendet: Alle Probleme – Probleme von Menschen, der Gesellschaft und der Natur – könnten einfach repariert werden. Man müsste nur den richtigen Schraubenschlüssel und den richtigen Hebel finden. In unserer Welt, die noch immer mit weitgehend technisch-wissenschaftlichen Vorstellungen beschrieben und erklärt wird, werden die meisten gesellschaftlichen Institutionen und deren Prozesse nach diesem Paradigma gestaltet: Schulen, Krankenhäuser, Unternehmen sind organisiert wie Maschinen, die funktionieren sollen und in deren Kontext Veränderungen als unangenehme Störungen behandelt werden. Das betrifft auch Kinder, Kranke, Mitarbeiter.6

      Wer allerdings jemals versucht hat, Veränderungen bei anderen Menschen, etwa bei den eigenen Kindern, nach dieser Logik anzugehen und angenommen hat, es genüge zu sagen, »Räum endlich dein Zimmer auf!«, wird erleben, dass das Kind sein Verhalten vielleicht ändert, vielleicht aber auch nicht, vielleicht in eine andere als die gewünschte Richtung. Veränderung lebender Systeme verlaufen nicht geradlinig wie eine Reparatur, sondern turbulent, unvorhersehbar, in Schleifen, Kreisen, Spiralen oder ganz verrückten Sprüngen.

      Um gesellschaftliche Transformation zu begreifen, brauchen wir andere Modelle von Veränderung. Wir brauchen Modelle und Konzepte von Veränderung, die den Eigenheiten lebender Systeme gerecht werden.

       1.2Das dialektische Konzept: Tanz der Gegensätze

       »Die Krise besteht gerade in der Tatsache, dass das Alte stirbt und das Neue nicht zur Welt kommen kann.« 7

      Antonio Gramsci

      Der Begriff Dialektik bezeichnet eine Form des Denkens, die durch den Prozess der Bearbeitung von Widersprüchen zu deren Aufhebung – in der doppelten Bedeutung von »Auf-Lösung« und »Aufbewahrung« – und damit zu neuen Erkenntnissen führt. Dialektik ist ursprünglich die Kunst des Diskurses, der Rede und Gegenrede, der Argumentation und Widerlegung zur Überwindung von Widersprüchen. Das Veränderungskonzept der Dialektik zeichnet ein dynamisches Bild von Prozessen, das in einer stetigen Auseinandersetzung zwischen These, Antithese und Synthese besteht, die zu einer Weiterentwicklung des Bewusstseins und Handelns führt.

      »Die Wirklichkeit wird im dialektischen Denken als etwas aufgefasst, das sich in ständiger Bewegung befindet, das verändert wird und selbst verändert, das aufhebt und aufgehoben wird.«8

      Im Zentrum des dialektischen Veränderungsmodells steht der Gegensatz, der Widerspruch, der Konflikt: ohne Gegensätze, ohne Widersprüche und Konflikt keine Veränderung. Das dialektische Konzept beschreibt Veränderung als einen kontinuierlichen Prozess der Bearbeitung von Widersprüchen. Weil aber das Leben voller Widersprüche und Konflikte ist, kann es keinen »veränderungslosen« Moment im Leben lebendiger Systeme geben, Veränderung ist Leben, das Leben ist Veränderung, keine Veränderung ist gleichbedeutend mit Tod.

      Veränderungen lebender Systeme werden im dialektischen Verständnis nicht als lineare Prozesse gedacht, sondern als schleifenförmige Bewegungen, als kontinuierlicher Tanz der Widersprüche. Bei gesellschaftlichen Veränderungen sind wir selbst die Tänzer und Tänzerinnen, die widersprüchliche Themen, Interessen oder Vorstellungen in der Gesellschaft vertreten. Der Tanz ist also nicht harmonisch, man steigt einander durchaus auf die Füße, kämpft um die Führung.

      Die Gegensätze werden bei diesem Tanz nicht zerstört und entfernt, sondern bleiben in den beiden Seiten aufgehoben. Das wunderbare Zeichen von Yin und Yang zeigt diese »Aufhebung« und »Behebung« der Gegensätze (siehe Abb. 2):

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      Abb. 2: Yin und Yang

      Das einleitende Zitat von Antonio Gramsci beschreibt die gesellschaftliche Geschichte als einen kontinuierlichen Prozess des Entstehens und Vergehens: Das eine, die These, vergeht in einem Prozess der Dekadenz, des Abstiegs; das andere, die Antithese, entsteht in einem Prozess der Aszendenz, des Aufstiegs. Das dialektische Modell von Veränderung ist ein Prozess, in dem das Alte ein Neues hervorbringt und von diesem abgelöst wird. Das Neue enthält dabei Elemente des Alten, das Alte hat das Neue immer schon wie einen Samen in sich getragen.

      Irgendwann wird das Neue selbst zu einem Alten und ein Neues, ein anderes Neues entsteht. Das ist der dialektische Gang der Geschichte und der Entwicklung: Jede gesellschaftliche Situation bringt durch die »Aufhebung der Widersprüche« eine neue Entwicklungsform hervor.

      Dieser Prozess verläuft nicht harmonisch und glatt. Im Übergang des einen Prinzips zum anderen entsteht ein Moment des »Niemandslands«, eine Krise (siehe Abb. 3). Von Krise sprechen wir dann, wenn dieser Kampf der Widersprüche noch nicht entschieden ist: Wird sich das Alte – das Traditionelle, Gewohnte, Bekannte – durchsetzen, oder wird sich etwas Neues, das Zukünftige, Riskante, Aufregende Bahn brechen? In dieser Unentschiedenheit ist alles offen, es wird an unterschiedlichen Ecken und Enden gezogen, es wird gekämpft und schließlich entschieden.

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      Abb. 3: Dialektisches Konzept von Veränderung

      In ihrer politischen Ökonomie wenden Karl Marx und Friedrich Engels diese Formen des dialektischen Prozesses auf gesellschaftliche Veränderungen an: Als Träger dieser gesellschaftlichen Hauptwidersprüche sahen Marx und Engels die unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen, ihre unterschiedlichen Lebensbedingungen und gegensätzlichen Ziele und Interessen:

      »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft

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