Systemische Beratung der Gesellschaft. Ruth Seliger
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Koppelung: Individuen in Gesellschaften sind lose gekoppelt, also nicht unbedingt direkt und persönlich miteinander verbunden, sondern durch ihre Mitgliedschaft in der Gesellschaft. Sie müssen einander nicht kennen oder etwas miteinander zu tun haben. Es genügt, dass sie sich durch Kommunikation zu dieser Gemeinschaft zugehörig fühlen.
Zwecklosigkeit: Eine Gesellschaft dient keinem Zweck und keinem Ziel, das sie von einer außenstehenden Instanz erhält. Gesellschaften haben nur den Zweck, weiter zu existieren. Gesellschaft ist, so gesehen, ein Selbstzweck.
Lebensraum: Gesellschaft ist der ultimative Raum unseres Lebens, die Welt, die uns umschließt und die unser Leben prägt. Unser Leben wird durch unseren Platz in der Gesellschaft und unser Verhältnis zu ihr bestimmt. Gesellschaft schwingt in uns selbst. Hartmut Rosa untersucht diese Resonanzen, die Gesellschaft in uns auslöst, die wir als Teil der Gesellschaft auf diese entwickeln und die entscheidend dafür ist, wie wir selbst in der Gesellschaft stehen.
»Meine These ist, dass es im Leben auf die Qualität der Weltbeziehung ankommt, das heißt auf die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stellung nehmen; auf die Qualität der Weltaneignung.«23
Wenn wir also von Gesellschaft als Lebensraum sprechen, dann ist damit das Zusammenspiel von Menschen und der Gesellschaft gemeint. Dieses Verhältnis ist entscheidend für uns und die Gesellschaft:
»Ob Leben gelingt oder misslingt, hängt davon ab, auf welche Weise Welt (passiv) erfahren und (aktiv) angeeignet oder anverwandelt wird und werden kann.«24
Grenzen der Gesellschaft: Immer wieder sind die Grenzen der Gesellschaft Thema gesellschaftlicher Diskussion: Wer gehört dazu, wer nicht?
In den vergangenen Jahren ist eine vollkommen andere, bisher wenig beachtete Grenze der Gesellschaft stärker ins Bewusstsein gelangt: die Grenze zur ökologische Umwelt, also zur Natur, in der und von der wir leben. Das Verhältnis von Gesellschaft und Natur war immer schon ein zentrales Thema der Menschen, das allerdings unterschiedlich interpretiert wurde und wird: Natur als Ressource, als Gefahr, als Quelle der Spiritualität oder als Quelle von Reichtum. Heute ist die Umwelt zum »Sorgenkind« der Menschheit geworden: Es ist das Bewusstsein von Grenzen zur Natur und auch von Grenzen der Natur entstanden, die nicht nur für einzelne Gesellschaften, sondern für die globale Gesellschaft relevant sind.
These 4: Gesellschaft muss ihre eigene Komplexität einfangen
Gesellschaften sind hochkomplexe Kommunikationssysteme. Um mit sich selbst umgehen zu können, um sich selbst steuerbar zu machen, um die eigene Komplexität zu bearbeiten, muss jede Gesellschaft eine innere Ordnung schaffen. Solche Ordnung entsteht, indem die Gesellschaft sich in einzelne Teilsysteme »portioniert« und strukturiert. Zu unterschiedlichen Zeiten, in unterschiedlichen Entwicklungsformen und unter unterschiedlichen Bedingungen waren jeweils unterschiedliche Ordnungskriterien maßgebend: vertikal etwa durch unterschiedliche Machtebenen und Hierarchien; horizontal etwa entlang von Arbeitsformen oder Ständen oder entlang von Familien oder Stämmen. Damit konnten innerhalb der Gesellschaft Zugehörigkeiten ausdifferenziert werden, die Orientierung und Sicherheit gaben.
Unsere moderne Gesellschaft gliedert sich in funktionale Teilbereiche, die für das Ganze der Gesellschaft wichtige Aufgaben – Funktionen – erfüllen: Bildungs-, Gesundheits-, Wirtschafts-, Sozialoder politisches System. Diese Differenzierung hilft den Mitgliedern der Gesellschaft, sich zurechtzufinden, zu wissen, wohin sie sich mit ihren unterschiedlichen Anliegen wenden können. Diese jeweiligen gesellschaftlichen Anliegen können von Organisationen bearbeitet werden.
»Ohne Differenzierung der Gesellschaft in Teilsysteme von geringerer Komplexität, etwa Systeme für Wirtschaft oder für Politik, für Erziehung oder für Kriegführung, gäbe es keine Eigenständigkeit von Organisationen.«25
2.3Wie verändert sich eine Gesellschaft?
Es ist schon schwierig, sich selbst zu ändern. Noch schwieriger ist es, andere Menschen, Familien oder Organisationen zu verändern. Fast unmöglich scheint es zu sein, die Gesellschaft zu verändern. Trotzdem kann man sagen: Jede Gesellschaft hat sich immer wieder verändert. Wie ist das gekommen?
Ausgehend von der Definition von Gesellschaft als Kommunikationssystem lässt sich schließen, dass auch Veränderung von Gesellschaften mit einer Veränderung von Kommunikation einhergeht. Diese Veränderungen können entweder durch innere Prozesse ausgelöst werden: Sei es der dialektische »Kampf der Widersprüche«, seien es Innovationen und Entdeckungen. Veränderungen können aber auch durch externe Ereignisse wie Naturkatastrophen oder andere Veränderungen der ökologischen Bedingungen ausgelöst werden.
Dirk Baecker sieht die wesentlichen Auslöser gesellschaftlicher Entwicklungssprünge in den Veränderungen der Medien und der Mittel der Kommunikation. Gesellschaftliche Veränderungen entstanden demnach durch
»die Einführung der Sprache, der Schrift und des Buchdrucks. Die Einführung der Sprache konstituierte die Stammesgesellschaft, die Einführung der Schrift die antike Hochkultur und die Einführung des Computers die nächste Gesellschaft«26.
In der Literatur finden sich sehr unterschiedliche Erklärungen für gesellschaftliche Veränderungen. Hier eine kleine Auswahl:
Veränderung durch Zufälle
Veränderung durch Erkenntnis
Veränderung der materiellen Lebensbedingungen
Veränderung durch Technologie und Innovation
Veränderungen durch soziale Konflikte.
Alles Zufall
»Nichts auf der Welt ist so mächtig wie eine Idee, deren Zeit gekommen ist.« 27
Victor Hugo
Angeblich hatte man zur Zeit des Pyramidenbaus die Dampfmaschine schon erfunden. Doch wer braucht schon eine Dampfmaschine, wenn Sklaven billigere Produktivkräfte sind?
Das Schießpulver/Schwarzpulver wurde schon vor über 1000 Jahren in China erfunden und dort vor allem bei Festen und Feiern für Feuerwerke verwendet, lange bevor es in Europa bekannt und dann für Kriegswaffen verwendet wurde. Es war offenbar noch nicht die rechte Zeit dafür, solange man schöne Rüstungen und Burgen hatte, um Krieg zu führen.
Manche Veränderungen entstehen als kleine, unbeachtete Phänomene. Wenn mehrere Zufälle zusammenkommen, dann ist die Zeit einfach reif für einen Sprung in eine neue Richtung, man spricht dann von einem »tipping point«, einem Kipppunkt.
»Der Tipping Point ist der Moment der kritischen Masse, die Schwelle, der Hitzegrad, bei dem Wasser zu kochen beginnt.«28
Der Tipping Point markiert einen plötzlichen Wendepunkt, an dem