Herausforderungen der Wirtschaftspolitik. Dirk Linowski

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Herausforderungen der Wirtschaftspolitik - Dirk Linowski

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in Reinform gibt), weiter simplifiziert in „gut“ und „schlecht“, bringen uns hier nicht weiter.

      Die soziale Marktwirtschaft der Bundesrepublik Deutschland erinnert definitorisch übrigens nicht mal entfernt, und dies ist keine Wertung, an eine idealtypische Lehrbuchmarktwirtschaft. Denken Sie hierbei z.B. an den Länderfinanzausgleich, den Mindestlohn, Krankenkassen- und Rentenzuschüsse aus Steuermitteln, HartzIV-Arbeitslosengeld u.v.m. (siehe auch Kapitel 8).

      Während China (richtigerweise) Staatskapitalismus bescheinigt wird, ist unser Reflexionsniveau bezüglich Deutschlands oder der USAUSA sprachlich und gedanklich seltsam beschränkt. Wie wir in den folgenden Abschnitten, nicht nur denen zu den Sozialversicherungen und den Finanzmärkten, sehen werden, ist es schlicht eine Frage der Perspektive, ob wir die modernen westlichen Volkswirtschaften als Staatswirtschaften mit privatwirtschaftlichen Merkmalen bezeichnen oder umgekehrt.

      Die bereits erwähnte Ökonomin Mariana Mazzucato zeigt z.B. in ihrem Buch „Das Kapital des Staates“, dass Wertschöpfung auch und gerade in den USA vom StaatStaat ausgeht. Das Raumfahrtprogramm, die Rüstung, BiotechnologieBiotechnologie, Internet, GPS u.v.m. wurden durch die Bereitstellung von Infrastrukturen der Grundlagenforschung, öffentliche Subventionen und eine diskrete Steuerpolitik vom US-Staat initiiert.

      Echte unabdingbare konstituierende Merkmale einer Marktwirtschaft gibt es jedenfalls wenige. Weder sind private Finanzinstutionen zwingend noch das Privateigentum an Wohneigentum, das es z.B. im „Musterkapitalismusland“ Singapur praktisch nicht gibt.2 Argumentationen werden üblicherweise darauf aufgebaut, dass Demokratie und Marktwirtschaft einander bedingen und dass Staaten, die auf demokratischen Prinzipien beruhen, Distanz zu Märkten haben. Das ist pauschal weder in Deutschland noch in den USA noch sonst irgendwo der Fall (vgl. Kapitel 6 und den Exkurs zu Kapitel 14).

      Wichtig ist an dieser Stelle festzuhalten, dass nicht nur die Außen- und Menschenrechtspolitik wertegetrieben ist, sondern dass dies ebenso für die Wirtschaftspolitik gilt. Es lohnt in diesem Zusammenhang, sich genauestens zu überlegen bzw. klarzumachen, worauf wir hinsichtlich unseres Gesellschaftsmodells stolz sind (es gibt zahlreiche positive Antworten) und was DemokratieDemokratie ferner tatsächlich bedeutet.

      Aufgabe zur Selbstreflexion:

      Versuchen Sie, die für Sie fünf wichtigsten „Güter“ einer Gesellschaft im allgemeineren volkswirtschaftlichen Sinne zu benennen (z.B. Eigenschaften, die mit Demokratie zusammenhängen, oder Demokratie ganz allgemein, öffentliche Sicherheit, Funktionsfähigkeit des Rechtssystems, Öffnungszeiten der Supermärkte, Qualität der Fußballnationalmannschaft usw.) und ihre subjektiven Wahrnehmungen auf einer diskreten Fünferskala von „trifft ganz zu“ bis „trifft überhaupt nicht“ auf Deutschland, Frankreich, Großbritannien, China und die USA (auch wenn Sie nicht alle diese Länder selbst besucht haben) anzuwenden und ermitteln Sie nachfolgend die Summen der absoluten Abstände. Das Ergebnis wird Sie vermutlich überraschen!

      In dem großartigen Buch des englischen Wissenschaftshistorikers Peter Watson „Ideen: Eine Kulturgeschichte von der Entdeckung des Feuers bis zur Moderne“ merkt Watson als Kommentar zur Entstehung der altgriechischen Demokratien an: „Aber wenigstens verdeutlicht es, dass das, was wir im 21. Jahrhundert als Demokratie ansehen, in Wahrheit eine Wahloligarchie ist.“[11] Diese Aussage, über die es sich nachzudenken lohnt, bezieht sich nicht auf Russland oder China, sondern auf „unsere“ westlichen Demokratien. Noch besser sollte es der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter gewusst haben, als er 2015 – vor der Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten! – festhielt: „Jetzt ist [das politische System der USA] nur noch eine Oligarchie, in der unbegrenzte politische Bestechung das Wesen der Nominierung zum Präsidenten oder der Wahl zum Präsidenten ausmacht. Und das Gleiche gilt für die Gouverneure, US-Senatoren und Kongressabgeordneten. Jetzt haben wir gerade eine Subversion unseres politischen Systems erlebt, als Lohn für Großspender, die Gefälligkeiten für sich selbst wollen, erwarten und manchmal auch bekommen, nachdem die Wahl vorbei ist.“[12]

      Wir – jeder von uns – haben per se die Angewohnheit, Wertungen zu treffen, ohne die Voraussetzungen zu hinterfragen. Interessante Ausführungen dazu und vieles mehr finden Sie im gut lesbaren Buch des einzigen Nichtökonomen, der bisher den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaft erhalten hat: in Daniel Kahnemans „Schnelles Denken, langsames Denken“. Sehr verkürzt und salopper, frei nach dem englischen Philosophen John Locke ausgedrückt: Die wahren Verrückten sind diejenigen, die auf den falschen Voraussetzungen basierend die richtigen Schlussfolgerungen ziehen.

      Im davor liegenden Bereich der WirtschaftstheorieWirtschaftstheorie sind es die Konstrukte des homo oeconomicus, der Rationalität, des Wettbewerbs und der Regulierung, die in der vorherrschenden volkswirtschaftlichen Lehrbuchliteratur zumeist quasi-axiomatischen Charakter besitzen (die Forschung ist hier zum Teil allerdings schon deutlich weiter).

      Die klassische Lehrbuchargumentation steht nicht nur im Widerspruch zu dem, was Sie täglich wirtschaftlich erleben. Ein intellektueller Vordenker der sogenannten Libertaristen, Peter Thiel, wird unter anderem derart zitiert: „Kreative MonopolMonopole ermöglichen neue Produkte, von denen alle profitieren. WettbewerbWettbewerb bedeutet keinen Profit, für niemanden.“ Weiter: Monopole haben „einen schlechten Ruf“ jedoch nur, „weil Wettbewerb eine Ideologie ist.“[13]

      Literaturtipp:

      Zur qualitativ gleichen Schlussfolgerung, wenngleich auf anderen Wegen, kommt der Schweizer Ökonom Mathias Binswanger. Ausgangspunkt von Binswangers Überlegungen ist die Beobachtung, dass der Preismechanismus für (eine gewisse) Effizienz sorgt, wenn Markt und Wettbewerb zusammenfallen. Markt und Wettbewerb sind aber verschiedene Dinge, die sich keinesfalls bedingen. So gibt es im Sport zumeist Wettbewerb, aber keinen Markt und Kartelle oder Monopole kontrollieren einen Markt, auf dem kein Wettbewerb herrscht. In seinem Buch „Sinnlose Wettbewerbe: Warum wir immer mehr Unsinn produzieren“ aus dem Jahre 2010 legt Binswanger dar, dass gerade Kennzahlensysteme, die im Hochschulbereich und im Gesundheitswesen angewendet werden, zumeist das Gegenteil dessen bewirken, was sie tatsächlich bewirken sollen. Indem hoch qualifizierte Ärzte und Universitätsprofessoren permanent nachweisen müssen, dass sie erfolgreich tätig sind, werden sie nicht nur Teil einer BürokratieBürokratie, sondern sie haben vor allem weniger Zeit für ihre eigentliche Kerntätigkeit zur Verfügung. Aus der Tatsache, dass Teilaspekte von Qualität messbar sind, folgt nicht, dass Qualität als Ganzes messbar ist! Um zu entscheiden, ob etwas insgesamt gut ist oder nicht, gibt es zumeist nur ein „Gefühl“ (vgl. wiederum Erkenntnisse des altchinesischen Philosophen Menzius, auf die in Kapitel 13 kurz Bezug genommen wird).

      Binswanger verweist darauf, dass Albert Einstein heute nie mehr Professor hätte werden können (wie zahlreiche andere Geistesriesen in der Mathematik und Physik ebenso nicht): Er zeigt, dass der permanenten Kontrolltätigkeit bzw. der Kennziffernverwendung ein bedenkliches Menschenbild zugrunde liegt, das vereinfacht besagt, dass Menschen nur auf Zuckerbrot und Peitsche reagieren. Aus der Tatsache, dass vielleicht 5% oder 10% der Richter, Ärzte oder Lehrer faul sind, werden die verbleibenden 90% oder 95% von ihrer Organisation mit einem „mechanisierten Misstrauen“ konfrontiert, das oft die Freude an der Arbeit verdirbt. Intrinsische Motivation oder Freude kommt in diesem System nicht vor. Ohne Freude an der Arbeit sinkt aber die Qualität geistiger Arbeit.

      Letztlich wird mit Verweis auf Kennzahlensysteme versucht, persönliche Verantwortung zu reduzieren, da Entscheidungen, so falsch sie ex post gewesen waren, (pseudo-)objektiv begründet wurden. Gerade im Gesundheitssystem wurden Ziel (Menschen gesund machen) und Nebenbedingung (die

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