Middlemarch. George Eliot
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Denn er war dabei so instruktiv gewesen wie Milton's »leutseliger Erzengel« und hatte ihr in einer des Erzengels nicht unwürdigen Weise mitgeteilt, wie er zu zeigen unternommen habe, – was freilich schon vor ihm nachzuweisen unternommen worden sei, aber nicht mit der Gründlichkeit und Korrektheit der Vergleiche und der Klarheit der Darstellung, welche er anstrebe –, daß alle mythischen Systeme oder vereinzelten mythischen Fragmente der Welt, korrumpierte Traditionen einer ursprünglich geoffenbarten Idee seien. Nachdem er einmal den richtigen Standpunkt gewonnen und festen Fuß auf demselben gefaßt habe, sei ihm das weite Gebiet mythischer Konstruktionen verständlich, ja, durch das von analogen Erscheinungen auf sie fallende Licht vollkommen klar geworden.
Aber die richtige Auswahl aus dieser großen Ernte der Wahrheit zu treffen, sei keine leichte und rasch zu bewältigende Arbeit. Schon seine Notizen füllten eine ganze Reihe von Bänden; aber die eigentliche Aufgabe werde nun darin bestehen, diese massenhaften, noch immer im Wachsen begriffenen Resultate seiner Studien derartig zusammenzudrängen, daß sie auf einem kleinen Bücherbrett Platz finden würden.
Bei dieser Erklärung, welche er Dorotheen gab, drückte sich Herr Casaubon fast so gelehrt aus, wie er es einem Fachgenossen gegenüber getan haben würde; ihm stand eben nur eine Ausdrucksweise zu Gebot. Allerdings verfehlte er nicht, so oft in seinem Vortrage ein lateinisches oder griechisches Zitat vorkam, mit der gewissenhaftesten Sorgfalt die Übersetzung hinzuzufügen; das würde er aber wahrscheinlich auch jedem anderen Hörer gegenüber getan haben. Ein gelehrter Provinzialgeistlicher ist gewohnt, sich seine Bekannten »als Lords, Ritter und andere edle und würdige Männer,« die des Lateinischen nur wenig kundig sind, zu denken.
Dorothea war von der Tiefe und Weite dieser Konzeption ganz hingenommen. Das war doch etwas Anderes als die Seichtigkeiten einer für die Lektüre junger Mädchen berechneten Literatur. Hier stand ein neuer Bossuet vor ihr, dessen Werk gründliche Gelehrsamkeit mit inniger Frömmigkeit in Einklang bringen würde, ein moderner Augustinus, welcher die Ruhmeskränze eines Gelehrten und eines Heiligen auf seinem Haupte vereinigte.
Die Heiligkeit schien bei ihm nicht weniger klar erkennbar als die Gelehrsamkeit, denn als Dorothea sich gedrängt fühlte, sich gegen ihn über gewisse Themata auszusprechen, über welche sie mit Niemandem in Tipton reden konnte, namentlich über die untergeordnete Bedeutung kirchlicher Formen und Glaubensartikel im Vergleich zu jener Religion der Seele, jener Versenkung des Ich's in die Gemeinschaft mit der göttlichen Vollkommenheit, deren Ausdruck sie in den besten christlichen Büchern der verschiedensten Zeiten enthalten glaubte, – fand sie in Herrn Casaubon einen Zuhörer, der sie sofort begriff, der sie versicherte, daß er selbst mit dieser Ansicht, sofern sie nur durch eine weise Annäherung an die Kirche moderiert erscheine, übereinstimme, und ihr historische Belege anführen konnte, die ihr bisher unbekannt gewesen waren.
»Er denkt wie ich,« sagte Dorothea sich, »oder vielmehr er lebt in einer ganzen Welt von Gedanken, die sich in meinen Gedanken nur wie in einem elenden Taschenspiegel widerspiegeln. Und auch seine Gefühle, seine ganze Erfahrung – sind sie nicht ein See im Vergleich mit meinem kleinen Teiche?«
Dorothea war mit ihren Folgerungen aus Worten und Stimmungen Anderer nicht weniger rasch bei der Hand als andere junge Mädchen ihres Alters. Symptome sind kleine meßbare Dinge; die Deutung aber ist unbegrenzt, und bei Mädchen von zärtlichem und feurigem Naturell ist jedes Symptom geeignet, eine Welt von Wunder, Hoffnung und Glauben herauf zu beschwören, in welcher ein Fingerhut voll Wissen die ganze Substanz bildet. Nicht immer sind sie dabei allzu gröblichen Täuschungen ausgesetzt; denn Sindbad selbst kann durch einen glücklichen Zufall auf eine richtige Beschreibung verfallen, und falsches Räsonnement führt arme Sterbliche bisweilen zu richtigen Schlüssen; wenn wir auch weit vom richtigen Ausgangspunkte anfangen und uns in Sprüngen oder im Zickzack fortbewegen, gelingt es uns doch bisweilen, am richtigen Ziele anzulangen.
Wenn Dorothea in ihrem unbedingten Vertrauen zu rasch zu Werke ging, so ist damit noch keineswegs gesagt, daß Herr Casaubon dieses Vertrauens unwürdig war. Es bedurfte, um ihn zu bewegen, etwas länger auf »Tipton-Hof« zu verweilen, als er beabsichtigt hatte, nur einer freundlichen Aufforderung des Herrn Brooke, der ihm als Lockung nichts anderes zu bieten hatte, als seine Dokumente über das Treiben der Arbeiter, über das Zerstören von Maschinen oder das Verbrennen von Heuschobern. Herr Brooke forderte Herrn Casaubon auf, sich diese auf einem Haufen liegenden Dokumente in der Bibliothek anzusehen. Hier nahm sein Wirth bald das eine, bald das andere derselben zur Hand, um es in seiner abspringenden und unruhigen Weise, mit welcher er von einem unvollendeten Satz zu einem andern mit einem »Ja!« – »Und nun!« – »Aber hier!« übersprang, vorzulesen, bis er die Dokumente schließlich alle bei Seite schob, um das Tagebuch seiner in der Jugend auf dem Kontinent gemachten Reisen zu öffnen.
»Sehen Sie, hier ist Alles über Griechenland. Rhamnos, die Ruinen von Rhamnos, Sie sind ja ein großer Grieche. Ich weiß nicht, ob Sie sich auch viel mit der griechischen Topographie beschäftigt haben. Ich habe eine unendliche Zeit auf das Studium dieser Dinge verwandt. Da ist z. B. der Helikon. Sehen Sie hier! – am nächsten Morgen brachen wir nach dem Parnassos auf – dem Parnassos mit dem verteufelt spitzen Gipfel! Dieser ganze Band, wissen Sie, behandelt Griechenland.«
Dabei hielt Herr Brooke das Buch vor sich und fuhr mit dem Rücken des Daumens über den Rand desselben hin.
Herr Casaubon gab eine würdige, wiewohl etwas melancholische Zuhörerschaft ab; bei geeigneten Stellen verneigte er sich und vermied es so viel wie möglich, irgend etwas, das einem Dokumente ähnlich sah, anzusehen, hütete sich jedoch, durch irgend ein Zeichen Nichtachtung oder Ungeduld zu verraten; denn er bedachte wohl, daß die Oberflächlichkeit des Herrn Brooke mit den Institutionen des Landes zusammenhänge, und daß der Mann, der ihm diese geistige Marter bereite, nicht allein ein liebenswürdiger Wirth, sondern auch ein Gutsbesitzer und Archivar der Friedensgerichts-Protokolle sei.
Fühlte er sich in seinem geduldigen Ausharren auch durch die Erwägung bestärkt, daß Herr Brooke Dorotheen's Onkel sei? Augenscheinlich war er mehr und mehr darauf bedacht, sie zum reden zu bringen, sich, wie Celia beobachtete, mit ihr allein zu unterhalten. Wenn er sie ansah, überflog sein Gesicht oft ein Lächeln, das dem Sonnenschein eines kalten Wintertages glich.
Bevor er am nächsten Morgen Tipton verließ, benutzte er noch einen angenehmen Spaziergang mit Dorotheen längs der mit Kies bedeckten Terrasse dazu, ihr zu sagen, daß er sehr unter seiner Einsamkeit leide und das Bedürfnis der heiteren Gesellschaft, mit welcher die Jugend auf die ernsten Arbeiten des reiferen Alters belebend und anregend wirke, sehr lebhaft empfinde; und er entledigte sich dieser Angaben mit einer so sorgfältigen Präzision des Ausdrucks, als wenn es sich um einen diplomatischen Auftrag gehandelt hätte, bei welchem jedes Wort von entscheidendem Gewicht gewesen wäre.
In der Tat war Herr Casaubon nicht gewohnt, seine Mitteilungen praktischer oder persönlicher Natur zu wiederholen oder nochmals in Betracht zu ziehen. Wenn er am 2. October wohl überlegter Weise gewisse Neigungen ausgesprochen hatte, so würde er es später für genügend halten, an diese Kundgebung durch Erwähnung des Datums zu erinnern; da er auch bei Anderen sein eigenes Gedächtnis voraussetzte, das einem umfangreichen Buche glich, in welchem ein »Siehe Oben« statt aller Wiederholung dienen kann, und nicht einem vielbenutzten Löschbuch, das nur die Spuren vergessener Schriftzüge aufbewahrt. Aber im vorliegenden Falle war Herrn Casaubon's Zuversicht kaum in Gefahr, getäuscht zu werden; denn Dorothea nahm Alles, was er sagte, mit dem Eifer einer frischen jungen Natur in sich auf, für welche jede neue Erfahrung eine Lebensepoche bildet.