Anleitung zum geistlichen Leben. Thomas von Kempen
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würden durch den Widerstand unserer Denkart nicht so leicht aus der Fassung
geraten. Aber oft bleibt uns von innen her etwas verborgen oder kommt von außen
auf uns zu, was uns sofort mitreißt. Viele suchen im geheimen bei ihrem Tun und
Lassen sich selbst und wissen es nicht. Dem Anschein nach leben sie, solange die
Dinge nach ihrem Wunsch und Willen gehen, in tiefem Frieden. Kommt es aber
anders, als sie wünschen, sind sie gleich erregt und traurig.
2. Wegen der Verschiedenheit im Fühlen und Denken entstehen häufig Zwistigkeiten
unter Freunden und Mitbürgern, unter Ordensleuten und Gottesfreunden. Eine alte
Gewohnheit gibt man schwerlich auf, und niemand lässt sich gern über seine eigene
Anschauung hinausführen. Wenn du dich mehr auf deine Vernunft und auf deinen
Fleiß verlässt als auf die bezwingende Kraft Jesu Christi, wirst du nur selten und erst
spät ein Mensch der Erleuchtung; denn Gott will, dass wir uns ihm vollkommen
unterwerfen und uns mit flammender Liebe über alles natürliche Denken erheben.
Handeln aus der Liebe
1. Alles geschehe aus Liebe.
2. Die Liebe sei ganz rein.
1. Um kein Ding in der Welt und niemandem zuliebe darf man Böses tun. Wohl aber
soll man, um einem Bedürftigen zu helfen, bisweilen ein gutes Werk aus freien
Stücken unterlassen oder in ein besseres ändern. Denn dadurch wird das gute Werk
nicht aufgehoben, sondern in ein höheres verwandelt. Ohne Liebe hat das äußere
Werk keinen Wert. Alles aber, was aus Liebe geschieht, mag es auch klein und
unansehnlich sein, bringt ganz reiche Frucht. Denn Gott sieht mehr auf die
Gesinnung, die dein Tun beseelt, als auf deine Leistung. Vieles vollbringt, wer viel
Liebe hat. Vieles vollbringt, wer eine Sache recht tut. Gut handelt, wer mehr der
Gemeinschaft als seinem Eigenwillen dient.
2. Oft scheint etwas wie Liebe auszusehen, und es ist mehr natürliches Begehren;
denn die Neigung der Natur, der Eigenwille, die Hoffnung auf ein Entgelt und der
Hang zur Bequemlichkeit verlangen immer ihr Recht. Wer wahre, vollkommene
Liebe hat, sucht in keiner Sache sich selbst, hat vielmehr in allem nur Gottes Ehre im
Auge. Er beneidet niemanden, verlangt für seine Person nach keiner Freude und sucht
sie auch nicht in sich selbst. Nur in Gott, über alle Erdengüter hinaus, möchte er sich
erfreuen. Er schreibt keinem etwas Gutes zu, sondern bezieht es ganz auf Gott, den
Urquell alles Guten und das Ziel, in dem alle Heiligen ihre selige Ruhe finden. Wer
nur einen Funken wahrer Liebe hätte, fürwahr, er würde spüren, daß alles Irdische
voller Eitelkeit ist.
Ertrage die Unzulänglichkeiten der anderen
1. Ertrage, ohne zu streiten, und bitte um Kraft.
2. Beurteile dich und die Welt nicht nach zweierlei Maß.
3. Das Ertragen ist gottgewollte Ordnung.
1. Was der Mensch an sich oder anderen nicht bessern kann, muß er geduldig tragen,
bis Gott es anders fügt. Denke: Es ist so vielleicht besser für deine Bewährung in der
Geduld, ohne die unsere guten Werke ja kein Gewicht haben. Du mußt jedoch bei
solchen Schwierigkeiten zu Gott flehen, daß er dir gnädig zu Hilfe komme und dir die
Kraft gebe, sie ruhig hinzunehmen. Sollte sich jemand nach ein oder zweimaliger
Ermahnung nicht fügen, streite nicht mit ihm, sondern stelle alles Gott anheim, dass
sein Wille geschehe und dass alle seine Diener ihm Ehre erweisen. Es ist ihm ja ein
leichtes, das Böse zum Guten zu wenden.
2. Lerne Geduld zu haben mit anderer Menschen Fehlern und Schwächen, welcher
Art sie auch sein mögen. Auch du hast vieles an dir, was andere ertragen müssen.
Wenn es dir nicht gelingt, ein Charakter zu werden, wie er dir vorschwebt, wie kannst
du den anderen nach deinem Wunschbild formen? Andere haben wir gern
vollkommen, die eigenen Fehler aber bessern wir nicht. Andere sollen streng
zurechtgewiesen werden, wir selbst aber wollen uns nichts sagen lassen. Die
weitgehenden Freiheiten, die anderen gegeben werden, erregen unser Mißfallen, die
eigenen Wünsche aber wollen wir erfüllt sehen. Andere sollen durch Verordnungen
eingeengt werden, und selbst dulden wir keine weitere Einschränkung. So ist es also
offenbar: Wir messen den Nächsten nur selten mit dem Maße, mit dem wir uns
messen.
3. Wenn alle vollkommen wären, was hätten wir dann von den anderen um Gottes
willen zu leiden? Nun aber hat Gott die Ordnung getroffen, dass wir lernen, "der eine
die Last des andern zu tragen" (Gal 6,2). Denn keiner ist ohne Fehler, keiner ohne
Last, keiner sich selbst genug, keiner hinreichend weise. Vielmehr müssen wir uns
gegenseitig ertragen und trösten, ebenso uns stützen, belehren und ermahnen. Wie
weit es aber jeder in der Tugend gebracht hat, zeigt sich am deutlichsten bei
Gelegenheit einer Anfechtung. Denn solche Anlässe machen den Menschen nicht erst
schwach, sondern sie zeigen nur, wie es um ihn steht.