Über das Schreiben eines Romans: 55 Schreibtipps für Profis. Stephan Waldscheidt
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Spätestens bei der Überarbeitung sollten Sie solche Wissensvorsprünge auf ihre Glaubwürdigkeit hin untersuchen. Und wissen, ob Sie den Leser an der Nase herumführen oder ihn zu ihrem Verbündeten machen möchten.
Die Vorteile von Froschperspektive und Understatement
Vom Zehnmeterturm! Für Lore – und nicht für den Führer!
Die Helden Ihres Romans leben in ihrer eigenen, begrenzten Welt. Vergessen Sie das nicht – insbesondere auch dann nicht, wenn Sie über große und bedeutende und welterschütternde Ereignisse schreiben. Mit einer wunderbaren Lakonie zeigt Oliver Storz diese Sicht in seinem Roman »Die Freibadclique« (SchirmerGraf 2008) über eine Jugend in Schwaben 1944 bis 1946:
Die Westalliierten kamen schnell voran. Die Russen zielten auf Warschau. Bubu und ich sprangen vom Zehnmeterturm. Für Lore. Die war schon neunzehn und schaute uns trotzdem zu.
Zwar wissen die Jungen um das Weltgeschehen, aber ihr Leben leben sie in ihrer kleinen Welt. Die großen Ereignisse sehen sie, wie wir alle sie sehen, eben auch als Leser: aus der Froschperspektive.
Wenn Sie sich in einem Abschnitt für eine Erzählperspektive entschieden haben, verlassen Sie sie nicht automatisch wieder, sobald es um Politik oder Gesellschaft geht. Gerade in historischen Romanen oder solchen mit politischem Hintergrund oder gar einer Botschaft erhebt sich der Autor allzu leicht vom engen Leben seiner Figuren – und auch in Fantasy- und Science-Fiction-Romanen passiert das leicht, wenn eine fremde Welt beschrieben und erklärt wird.
Das Ausbrechen mag gewollt und sinnvoll sein und manches lässt sich kaum aus der persönlichen Perspektive eines Einzelnen erzählen. Wollen Sie jedoch, dass Ihre Leser in jedem Moment Ihres Romans so nah wie möglich bei Ihren Charakteren bleiben, ist das Beharren in der engen, personalen Erzählperspektive die bessere Wahl.
Vorsicht geboten ist bei der Perspektive des allwissenden oder auktorialen Erzählers. Sie verführt dazu, Propaganda, Belehrung und eigene Kommentare in die Geschichte eindringen zu lassen. Falls Sie das nicht möchten, bewegen Sie sich auf einem schmalen Grad. Achten Sie auf jeden Ihrer Schritte.
Ein anderes Problem kann sich offenbaren, wenn der allwissende Erzähler ganz auf Agitation verzichtet und, im Gegenteil, sehr objektiv berichtet: In längeren Abschnitten mit dieser Erzählstimme besteht dann die Gefahr, dass nur über das berichtet wird, was passiert – Handlung pur –, Reaktion und Reflexion aber fehlen – und dadurch auch Emotion.
Gravierender: Von der Einstellung der Charaktere zu den geschilderten (Groß-)Ereignissen erfährt der Leser nichts und verpasst damit ausgerechnet das, was ihn am meisten interessiert und an die Geschichte fesselt.
Beispiel – Objektive Sicht eines allwissenden Erzählers:
Der Imperator beherrschte Wquofig schon seit siebenunddreißig Dekaden.
Beispiel – Subjektive Sicht eines personalen Erzählers:
Wann krepiert der Kaiser endlich? Schon mein Großvater musste sich vor ihm beugen und wurde trotz harter Arbeit als Fischer arm bei dem Versuch, seine blutsaugerischen Steuern zu zahlen. Und wofür? Für noch einen Palast, für eine noch größere Armee, für Nachttöpfe aus Gold, in die der Imperator nur ein einziges Mal seine goldenen Eier legt.
Neben dem lakonischen Ton wirkt der eingangs zitierte Abschnitt aus Storz’ Roman auch wegen des Kontrasts so gut: Der furchtbaren Endphase eines furchtbaren Krieges wird das pubertäre Protzgehabe von Vierzehnjährigen gegenübergestellt. Kontrast ist eins der mächtigsten Stilmittel überhaupt.
Ein anderes ist Understatement.
Statt für die scheußlichen Geschehnisse nach adäquat scheußlichen Wörtern zu suchen, erzielen Sie mit Untertreibung oft die besseren Ergebnisse. Sie umgehen die Gefahr von Melodramatik und rufen im Leser dennoch starke Emotionen hervor.
Besonders deutlich erkennen lässt sich das im Film. Ein filmisches Pendant zum Understatement ist die getragene Chormusik plus Zeitlupe bei blutigen Schlachtenszenen. Heruntergespielt werden das Tempo und die Wucht der Klänge von Schwertern, von Kanonen, von Todesschreien. Herausgestellt werden die Gefühle: das Elend, das Leid, die Trauer. Mit anderen Worten: Durch das Understatement treten die Gefühle eindringlicher zutage – das Wichtigste beim Schreiben.
An diesem filmischen Instrument sehen Sie, was Understatement noch zu einer solch starken erzählerischen Waffe macht. Es geht darum, das weniger Wichtige herunterzuspielen, damit das Eigentliche deutlicher erkennbar wird.
Die Kehrseite: Mittlerweile ist das Mittel der Chöre, die statt des Kampflärms über blutigen Schlachten liegen, leider zum Klischee geworden. Statt echter Gefühle liefert es bloß klebrige Melodramatik.
Understatement bietet, bei gezieltem und das Klischee meidenden Einsatz, einen weiteren Vorteil: Es nutzt sich langsamer ab als Übersteigerung und Übertreibung. Wenn Sie es dazu mit Lakonie oder einer Art gelassenem, jüdischen Humor paaren, besteht kaum die Gefahr der Abnutzung.
Ähnlich arbeitet Imre Kertész in seinem Holocaust-Drama »Roman eines Schicksallosen«, wo ein KZ-Insasse Verständnis mit den Tätern und ihren unmenschlichen Taten aufbringt. Das Grauen über Hunderte von Seiten auf eine angemessen grausige Weise darzustellen, wäre als Roman unerträglich und unlesbar.
Wenn man dem Leser die fette Butter nur dünn aufs Brot schmiert, wird sie ihm nicht so schnell über.
Risiken ungewöhnlicher Erzählperspektiven
Brief an meine ermordete Schwester
Die heute am weitesten verbreitete Erzählperspektive in Romanen, die nahe dritte Person, ist auch deshalb so beliebt, weil sie die geringsten Risiken für den Autor birgt. Gerade Anfänger unterschätzen die Herausforderungen der ersten Person, der Ich-Perspektive. Rasch wirken manche Konstruktionen gestellt und nicht mehr glaubwürdig. So wie in dem Debüt-Roman der Engländerin Rosamund Lupton, »Sister« (Piatkus 2010 / eigene Übersetzung / dt. »Liebste Tess«), über den ich in einem der vorigen Kapitel bereits geschrieben habe und den ich hier aus einem anderen Blickwinkel betrachte.
Der Roman, eine Art Krimi mit literarischem Anspruch, wird als Brief einer Frau an ihre jüngere Schwester erzählt, in der ersten Person. Schon nach wenigen Seiten stört die allzu auffällige Exposition, die sich in Sätzen wie »Aber wie du weißt …« zu erkennen gibt und darin gipfelt, dass die Erzählerin ihrer jüngeren Schwester ihren Namen sagt, nachdem sie hört, wie er von vor dem Haus wartenden Journalisten ausgesprochen wird: »… mein eigener Name springt mich an: ‚Arabella Beatrice Hemming‘« und, nur wenige Zeilen später, wiederholt sie ihren Namen: »… es dauert einen Moment, bevor mir klar wird, dass ich, Arabella Beatrice Hemming, der Grund dafür bin.«
Kein Mensch würde solche Dinge in den Brief an die eigene Schwester schreiben. Gehen Sie daher in Ihrem Roman bedacht mit der Exposition um und klopfen Sie sie auf unauthentische Inhalte ab.
Die Erzählung aus der ersten Person heraus bietet noch weitere Schwierigkeiten. Ein großes Problem bei einem