Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft. Peter Maier
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Initiation - Erwachsenwerden in einer unreifen Gesellschaft - Peter Maier страница 9
3. Kriterium: Bereitschaft, Entbehrung und Schmerz auf sich zu nehmen und sich seinen Ängsten zu stellen - Mutproben.
4. Kriterium: Erfahrung der inneren und der „anderen“ Welt, Erkennen der eigenen Lebensspur.
5. Kriterium: Kontakt zu den eigenen Ahnen und zur Geschichte.
6. Kriterium: Erkennen der eigenen Lebensaufgabe – Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung.
7. Kriterium: Bezeugung, Bestätigung und Anerkennung durch die Gemeinschaft – Initiationszeichen.
8. Kriterium: (Endgültige) Ablösung von den Eltern.
Fast alle Kriterien sind erfüllt
Für Julian bedeutete die Kanada-Reise eine sehr deutliche Ablösung von seinen Eltern (1. und 8. Kriterium). Er musste dort ganz alleine zurecht kommen. Selbst im Falle einer schlimmen Krise hätte es einige Tage gedauert, bis er wieder in München gewesen wäre.
Die Fähigkeit, alleine zu sein, hat er dabei wirklich deutlich unter Beweis stellen müssen. Die schwierigste Phase war die Weihnachtszeit, wo er sich etwa zehn Tage lang emotional fast mutterseelenallein durchschlagen musste. Aber auch während der ganzen Reise musste er immer wieder mit sich allein zurechtkommen. Gerade dadurch konnte er sich aber besser kennenlernen. Anscheinend war in ihm so viel Urvertrauen gespeichert, dass er sich diese lange Zeit des Alleinseins zumuten konnte, ohne psychisch einzubrechen, in Panik zu geraten oder in eine größere Depression zu verfallen (2. Kriterium).
Die ganze Reise war eine einzige Mutprobe. Dies schloss die Bereitschaft ein, Entbehrungen auf sich zu nehmen, einsame Stunden und Tage auszuhalten, mit ziemlich wenig Geld und Komfort auszukommen und sich den eigenen Ängsten zu stellen. Die Visionssuche in den USA war dabei eine zusätzliche Herausforderung (3. Kriterium).
Er lernte sich in den zehn Monaten in Kanada viel besser kennen.Während es in seiner Clique in München immer darum ging, sein Gesicht zu wahren, cool zu wirken und ja keine persönlichen Gefühle zu zeigen, war die Reise eine echte „Heldenfahrt“ zu sich selbst und in sein Inneres. Durch die extremen Umstände des ganzen Unternehmens lernte Julian nun erst Gefühle kennen, die ihm bis dahin unbekannt waren: besonders Existenzängste und Einsamkeitsgefühle. Zudem bestand die Notwendigkeit, sich vor allem auf dem Bau als körperlich kleiner junger Ausländer gegen große einheimische Mitarbeiterkollegen behaupten zu müssen. Außerdem musste Julian während seiner Reise mehrmals seine Fähigkeit unter Beweis stellen, sich immer wieder neu organisieren zu können. In Amerkia hatte er nämlich keinen Schutz mehr durch die Clique oder durch seine Eltern (4. Kriterium).
Da er während seiner Kanadazeit auch noch eine Visionssuche bei der „School of Lost Borders“{12} in den USA machte, lernte er viel von der magischen, “anderen“ Welt in der Natur kennen, vor allem, als er während der Solozeit für vier Tage und Nächte ganz alleine und fastend draußen in der Wildnis weilte. Darüber wird später noch ausführlicher zu sprechen sein (4. Kriterium).
Während seiner Visionssuche geschah noch etwas Verrücktes: Da er vier Tage und vier Nächte nichts essen durfte, glaubte er, diese Solozeit nicht mehr durchstehen zu können. Wie so viele Menschen war er es gewohnt, einfach einen kleinen Imbiss zu sich zu nehmen, sobald ein leichtes Hungergefühl auftaucht. Diese Gewohnheit konnte jetzt aber nicht befriedigt werden. Was tun? Er ging in die Phantasiewelt und malte sich dort mindestens 100 verschiedene Gerichte aus, die er alle kochen wollte, sobald er wieder in Deutschland war. Tatsächlich hat er danach in München einen Kurs bei einem bekannten Fernsehkoch absolviert und ist nun in der Lage, eine ganze Großfamilie alleine zu bekochen.
In der Fremde erst wurde ihm bewusst, wie wichtig ihm seine eigene Familie ist. Er konnte spüren wie nie zuvor, dass er geliebt war und dass viele mitfieberten bei seinem Abenteuertrip. Alle – sogar der anfangs noch zweifelnde Onkel - hatten ihm die moralische Unterstützung zugesagt, nachdem er sich endgültig für die Reise entschieden hatte. Als Ausländer musste er sich an seinen Arbeitsstellen klar positionieren. So konnte er beispielsweise immer wieder erleben, dass er nach der Hitler-Zeit, nach den Konzentrationslagern und nach Neonazis in Deutschland gefragt wurde. Daher musste er sich viel intensiver als zu Hause mit der eigenen Geschichte auseinander setzten, erlebte aber auch anerkennende Rückmeldungen als Deutscher (5. Kriterium).
In dieser Zeit, in der er Licht- und Schattenseiten bei den verschiedenen Arbeitsstellen kennen lernen musste, reifte in ihm der Entschluss heran, nach der Rückkehr ein Studium zu beginnen und sich diesem mit voller Kraft zu widmen. Aber auch ganz grundsätzlich durfte er in Kanada erfahren, dass es letztlich nur auf ihn alleine ankommt, wenn er im Leben etwas erreichen und für sich selbst sorgen will. Damit hatte er in sich einen vollkommenen Paradigmenwechsel vollzogen. Während seiner ganzen Schulzeit ging es in seiner Klasse und in seiner Clique ausschließlich darum, nichts zu lernen, sich mit den Lehrern anzulegen, sie für etwaige schlechte Noten verantwortlich zu machen, Partys zu feiern und mit Freunden zu saufen. Jetzt war er vollkommen bereit, die Verantwortung für sich und sein kommendes Studium zu übernehmen und dem Rat einiger Verwandten zu folgen, dieses von Anfang an mit voller Kraft zu beginnen (6. Kriterium).
Julian kehrte völlig verändert zurück: War er noch als wirklich „grüner“ Junge abgereist, so kam nun ein viel reiferer junger Mann wieder nach Hause. Dies hatten bereits seine Eltern feststellen können, die ihn ja in Kanada besuchten. Der Onkel aber, der ihm besonders zugetan war und sein ganzes Unternehmen von Anfang an begleitet hatte, konnte die Veränderung nach zehn Monaten wohl am deutlichsten wahrnehmen. Bei der bereits im Interview erwähnten Familienfeier oblag es ihm, Julian bei dieser Gelegenheit offiziell und mit voller Überzeugung als „erwachsen“ zu erklären. Dies wurde zusätzlich mit einem kleinen Geschenk ausgedrückt, das eine Erinnerung an und eine Würdigung der Reise sein sollte. Das alles war sehr wichtig für Julian. Denn erst dadurch war seine Heldenreise zu sich selbst – gleichsam in einem Ritual - zu einem gewissen Abschluss gekommen. Jetzt konnte er sich mit Mut und Kraft, sowie mit der Anerkennung durch seiner Verwandtschaft im Rücken, seiner neuen Aufgabe - dem Studium - zuwenden (7. Kriterium).
Ist Julian nun wirklich ganz erwachsen? Diese Frage kann nur mit einem „Jein“ beantwortet werden. Denn er wohnt noch zu Hause und ist finanziell noch von seinen Eltern abhängig. Dies wird sich erst ändern, wenn er sein eigenes Geld verdient (8. Kriterium). Dennoch hat Julian das an Eigenständigkeit und Erwachsensein herausgeholt, was in seinem Alter und in seiner Situation als Student möglich ist. Kanada ist für ihn zu einer Heldenfahrt zu sich selbst und in sein Erwachsensein geworden. Die Auslandsreise hat alles verändert und kann bei ihm mit gutem Recht als ein gelungener Prozess zum Erwachsenwerden bezeichnet werden.
Initiationsrituale fehlen in unserer Gesellschaft
Bedauerlicherweise fehlt diese Erfahrung so vielen jungen Leuten in unserer heutigen Gesellschaft, die den Mut und die Kraft nicht aufbringen, solch eine aufwendige „Erwachsenenprüfung“ wie Julian zu machen. Leider mangelt es bei vielen Jugendlichen und deren Eltern, ja in unserer Gesellschaft insgesamt, an der Einsicht in die Notwendigkeit einer bewussten Initiation und an dem Wissen von geeigneten Initiationsritualen, durch die das Erwachsenwerden erreicht werden könnte. Darüber wurde in Band I (ÜR) ausführlich geschrieben.
In diesem zweiten Band soll es darum gehen, wie, auf welche Weise und mit welchen Ritualen eine Initiation geschehen kann. Zu Beginn genauerer Überlegungen sollen dazu einige grundlegende Fragen gestellt werden:
Warum ist „Initiation“, also der bewusste und rituell gestaltete Übergang von der Jugendzeit ins Erwachsensein, denn so wichtig?
Welche