Winfried von Franken. Michael Sohmen
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»Hat sie gekündigt?«
Burkhart schaute ihn traurig an. Er räusperte sich, rang um Worte und begann zu erzählen: »Rainer hat etwas mitgehört, als er gerade ins Büro vom Chef wollte. Hinter der Tür hörte er Frau Schmitt reden. Die letzten Monate hätte sie eine Liste mit Verbesserungsvorschlägen erarbeitet …«
»Oje!«, stöhnte Winfried und ahnte Böses.
»… und der Chef hätte nur laut gelacht und gesagt, sie solle froh darüber sein, wenn ihr wenigstens solche Aufgaben zugetraut würden, wie Kaffee zu kochen oder am Empfang zu sitzen. Das wäre doch besser, als auf den Strich zu gehen. Sie hätte etwas Vernünftiges wie er studieren sollen: Betriebswirtschaftslehre.«
Drecksau! - dachte Winfried und rief seine Erinnerungen ab: »Philosophie und Literatur hat sie studiert, oder?«
»Ja. Zehn Jahre lang. Rainer meinte, sie wäre vollkommen ausgerastet … und hätte laut geschrien. ›BWL studieren nur die größten Vollpfosten‹, wäre das harmloseste gewesen. Danach wäre sie aus dem Büro gerannt.«
»So hätte ich auch mit dem Chef gesprochen, Burkhart! Und dann?«
»Hast du's noch nicht gehört, Winfried?« Er blickte zu Boden und senkte die Stimme. »Sie ist aus dem Fenster gesprungen. Im zehnten Stock. Zwei Stunden, bevor du gekommen bist, wurde sie vor dem Gebäude gefunden.«
Den Rest des Tages starrte Winfried wie seine Kollegen durch seinen Bildschirm hindurch, unfähig, sich auf seine Arbeit zu konzentrieren. Ihn trieb der Gedanke, seinen Chef nach oben zu schleifen und hinterher zu werfen. Nach intensiver Überlegung kam er jedoch zum Schluss: So ein Typ ist es nicht wert, dass man sich seine Finger schmutzig macht. Vielleicht gerät er in einen Verkehrsunfall, wird in seinem Auto eingeklemmt und geht darin elend zu Grunde, ganz langsam. Stundenlang sitzt er dort in seinem Wrack und heult. Dabei fängt es an zu brennen. In Zeitlupe krepiert er vor sich hin. Die Feuerwehr kommt, schaut in sein Auto, sagt: »Nee, du nicht!« und fährt wieder weg. Seine Miene hellte sich auf. Genau! Das ist ein guter Plan. Viel besser, als ihn hier und jetzt zu töten.
*
Regelmäßig ließ Winfried sich von Gernot zu einem Wochenend-Treffen in dessen Lieblingscafé überreden, um über Gott und die Welt zu palavern oder Neuigkeiten auszutauschen. Gernot erinnerte ihn wegen seiner dicken Lippen und den Glupschaugen immer an einen Frosch.
»Hi Winfried! Wie läuft's bei der Arbeit?«
»Nun ja … wie immer, Gernot. Und bei dir?«
»Grandios!«
Immer dasselbe Thema: Job, Job, Job! - ärgerte sich Winfried - gerade jetzt wäre mir jedes andere Thema recht.
Eine attraktive Kellnerin eilte an den Tisch, zückte ihren Notizblock und fragte: »Was bekommen die Herren?«
»Einen Milchkaffee«, sagte Winfried.
»Und Sie?«
Gernot grinste. »Ich bekomme eine große Latte.«
Die Kellnerin lief rot an. »Wie bitte, der Herr?«
»Eine Latte Macchiato, groß«, erklärte er auf die Nachfrage.
Mit verstörtem Gesichtsausdruck kritzelte die Kellnerin etwas auf ihren Notizblock und eilte davon.
Irgendwann muss er endlich seine postpubertäre Phase abschließen, ärgerte sich Winfried, als Gernot wieder zu seinem Lieblingsthema kam: »Du weißt ja, Marketing! Eine absolute Zukunftsbranche und kreativ. Vielleicht solltest du darüber nachdenken, zu wechseln.«
»Besonders einfallsreich finde ich es nicht, was ihr macht. Alles wiederholt sich, selten erfindet ihr Neues. Die Kreativität bleibt auf der Strecke.«
»Du verstehst das Ganze nicht. Wir entwickeln nachhaltige Strategien. Die Tendenz geht immer mehr dahin, Menschen möglichst früh mit Werbung zu bombardieren und die Nachfrage nach bestimmten Marken, wenn möglich, schon im Säuglingsalter zu wecken. Spielzeug, Babyklamotten oder Nuckelflaschen, auf denen eingängige Logos schlagkräftiger Konzerne prangen. Deswegen werden die Logos immer trivialer, damit die ganz Kleinen sich die auch einprägen können. Was früher die Hitlerjugend oder die FDJ war, sind heute die Markenkids. Selbst die Kreuzritter kannten dieses Prinzip. Alle hatten ein Logo auf ihrem Mantel.«
»Ähem«, räusperte sich Winfried. »Tabus kennt ihr wohl keine!«
Die Kellnerin kehrte zurück und stellte zwei Kaffeetassen auf den Tisch. »Einmal für den mit der großen Latte, einen Milchkaffee für den anderen. Könnten Sie bitte gleich zahlen? Ich würde nicht gerne nochmal an Ihren Tisch kommen.« Mit verschämten Blick sprach Winfried: »Ich zahle Beides.« Die Kellnerin kassierte und eilte im Laufschritt davon.
Gernot grinste. »Du verstehst das Ganze wirklich nicht. Heute geht es um alles oder nichts, sein oder nicht sein. Die Hälfte aller Konzerne könnte über Nacht ihre Produktion einstellen, ohne dass es den Konsumenten an etwas fehlen würde. Wir leben in einer Zeit der Überproduktion, die exponentiell zunimmt. Zudem wird die Herstellung in den Arbeitslagern der dritten Welt immer billiger. Was heute fehlt, ist Nachfrage. Genau da setzt Marketing an. Um Bedarf zu generieren. Es wird mittlerweile mehr Kapital aufgewendet, Produkte an den Mann oder die Frau zu bringen, als für die Herstellung.«
»Das befürchte ich auch. Freie Marktwirtschaft hat ja seine guten Seiten, alle werden satt, man sollte jedoch an die Zukunft denken und das Problem der Überproduktion lösen.«
»Die EU könnte beschließen, einfach die Überschüsse - beispielsweise die Hälfte aller hergestellten Waren - aufzukaufen, alles auf einen gigantischen Haufen zu werfen und zu verbrennen, um die Preisspirale nach unten zu bremsen. Es würde den Verdrängungswettbewerb einen Moment aufhalten, wäre aber keine Lösung von Dauer. Die Produktion würde sich verdoppeln, vervierfachen, irgendwann hätten wir den Salat. Immer mehr produzierte Ware müsste vernichtet werden, Milliarden Tonnen Erzeugnisse, fabrikneu, auf den Scheiterhaufen. Oder ins Meer kippen. Alle überflüssigen Erzeugnisse, die niemand haben will.«
Winfried fühlte kalten Schweiß seinen Nacken hinunterlaufen. »Das wäre sehr schade«, sprach er nachdenklich, »letztendlich haben wir ja begrenzte Ressourcen.«
»Heute sind die Hersteller teilweise sehr einfallsreich. Sie bieten einfach weniger. Sollbruchstellen. Die Produkte gehen nach Ablauf der Garantiezeit sofort kaputt. Kreativität bei Verpackung von Lebensmitteln – sie füllen einfach immer weniger hinein.« Gernot zog eine Rolle Chips aus seiner Tasche und öffnete sie mit einem ›Plopp‹. »Wie bei diesem Hersteller, der Unsummen für Werbung ausgibt und beim Produkt spart: diese Packung wird mittlerweile nur noch halb gefüllt, während der Preis gleich geblieben ist. Man kauft statt einer Packung eben zwei.«
»Das ist doch Betrug!«
»Oder kreativ. Selbst schuld, wer das kauft. Es hat sich ein hemmungsloser Verdrängungswettbewerb entwickelt, deswegen versucht man mittlerweile, dass sich Logos fest ins Gehirn einbrennen. Um Menschen auf Marken zu fokussieren. Es vermittelt ein Gefühl von Sicherheit und dass man irgendwo dazugehört. Logos, Sound, Produkte, trivial müssen sie sein. Überlege mal: vier Töne hintereinander. Drei sind gleich, die kennt jeder.«
Winfried flötete vier dramatische