Winfried von Franken. Michael Sohmen
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»Ich will vorab bekannt geben, dass ich heute einige Ankündigungen zu vermelden habe«, eröffnete der Geschäftsführer die Feier. »Wegen des Strukturwandels müssen wir im Bereich des Personals mit sozialverträglichen Maßnahmen reagieren. Aber, bevor ich mit der Tür ins Haus falle, begrüße ich herzlich alle Mitarbeiter zu unserer Weihnachtsfeier. Und da mir vor wenigen Tagen mitgeteilt wurde, dass die finanzielle Förderung unseres Integrationsprogramms staatliche Zustimmung erfahren hat, begrüße ich besonders: unsere Menschen mit Migrationshintergrund!«
»Sag doch gleich, dass ich gemeint bin!« Jorge alias Waldemar stand auf und brüllte: »Ich bin Ausländer! Ein Mensch zweiter Klasse!«
Alle Köpfe drehten sich um, viele Augenpaare richteten sich in die hintere Ecke. »Pssst!«, zischte Winfried, »sei doch ruhig! Muss das immer sein?«
»Die derzeit schwierige konjunkturelle Lage«, fuhr der Geschäftsführer fort, »zwingt uns, über die Effizienz bestimmter Abteilungen nachzudenken. Einiges ist zu optimieren. Und, wenn es nicht anders geht, müssen wir …« Er zögerte kurz und sprach leiser: »zum Wohl unseres gesamten Unternehmens den einen oder anderen Bereich verschlanken.«
»Werden Leute rausgeschmissen?«, rief Jorge alias Waldemar. »Zuerst sind es bestimmt Ausländer wie ich, bevor ein Nazi gehen muss!«
Der Geschäftsführer atmete tief durch und starrte, um Fassung ringend, in die vorlaute Ecke. »Ich wollte das eigentlich anders formulieren.« Er wurde laut: »Aber eure Abteilung verursacht ausschließlich Verluste! Ihr baut nur Mist, alle leiden darunter! Und das seit Jahren. Ich frage mich, was ihr den ganzen Tag anstellt! Kürzlich war ich dort und habe mitbekommen, was ihr so treibt: es wurde Fang-mich-doch auf dem Gang gespielt!«
Verstohlene Seitenblicke zum promovierten Mathematiker Dr. Weingarten folgten. Für ihn hatte immer noch niemand eine Idee, wie man ihn sinnvoll hätte beschäftigen können. Leises Schluchzen war zu hören.
»Genaugenommen heißt sozialverträglich«, endete der Geschäftsführer seine feierliche Rede: »ich werde eure Abteilung dicht machen, das ist für den Rest des Unternehmens sozial verträglich!«
Dr. Weingarten war der Einzige, der von der Nachricht überrascht wurde. Er reagierte mit schockiertem Gesichtsausdruck: »Was? Verlieren wir Jobs?«
»War es das, was du wolltest?«, wandte sich Rainer an den vorlauten Spanier. »Ihn derart zu provozieren?«
»Ja!«, antwortete der Angesprochene lächelnd. »Ich wollte ehrlich und direkt hören, wie es läuft und was auf uns zukommt. Mich hat dieses nichtssagende, ausweichende Gerede genervt. Jetzt ist es raus.«
Wie lange hatte Winfried überlegt, die Flucht zu ergreifen und aus dem Betrieb abzuhauen. Dies hatte sich nun erledigt.
Das erste Mal seit vielen Jahren lächelte sein Chef. »Ah, der Herr Kunze. Sie kommen gerade recht, um Ihre Kündigung abzuholen«, sprach er gutgelaunt, als Winfried sein Büro betrat und reichte ihm einen Zettel: »Hier. Am besten, Sie packen Ihre Sachen sofort und verlassen den Betrieb. Ihren Resturlaub habe ich berechnet, der genügt für den Zeitraum der Kündigungsfrist. In Ihrem Sinne habe ich schon einen Antrag gestellt und genehmigt. Den Urlaub nehmen Sie ab sofort!«
»Danke«, sagte Winfried, fragte sich aber im nächsten Moment, wofür. Er murmelte kurz: »In Ordnung.«
Nachdem er sich von seinen Kollegen verabschiedet hatte, ließ er zum letzten Mal die Tür seiner Firma hinter sich zufallen. Nie wieder dieser Saftladen! Niemals wieder!
Tief bewegt und nachdenklich wandte er seinen Blick in die Ferne, atmete die wohltuende Luft der Freiheit, ließ sie tief in seine Lungen strömen. Die Sonne durchdrang seinen Körper, die Wolken bildeten sphärische Wesen. Sein Geist wanderte umher, stieg in die Höhe, wurde zu einem Vogel, der hoch durch die Lüfte schwebte, über das Firmament hinaus. Von dort sah er, wie unten seine körperliche Gestalt in der nachmittäglichen Sonne die ersten Schritte in die Freiheit unternahm. Er war ein Tier, das lange in Gefangenschaft gehalten wurde und ins Leben zurückgekehrt ist.
Ich bin frei!
Der Abstieg
Winfried wurde durch den Lärm heimfahrender Berufspendler geweckt. Es war später Nachmittag.
Auweia! - war der erste Gedanke in seinem brummenden Schädel - ich brauche erst mal einen Schluck Magenbitter gegen den Kater. Er leerte eines der Fläschchen in einem Zug, setzte sich auf die Bettkante und grübelte. Er geriet in Zorn, ärgerte sich über die Vergangenheit, über die Zukunft, die Dummheit der Menschen. Über alles, was ihm in den Sinn kam.
Ich muss mich entspannen und mir etwas Schönes vorstellen! Er versuchte, seinen Gedanken eine positive Richtung zu geben. Ein weißer Sandstrand in der Südsee, leises Rauschen des Meeres, wolkenloser Himmel und die helle Sonne, die mir auf den Bauch scheint. Mich wärmt. Hoch über mir schweben Möwen, die mit gleichmäßigen Flugbewegungen rhythmische Tänze aufführen. Er atmete tief durch und ließ seine Gedanken fortdriften. Sonne, Meer, Wellen. Glasklares Wasser, das sanft über feinkörnigen Sand rauscht, innehält, sich wieder zurückzieht. Sein Blick wanderte zu den Sanddünen, über die der leichte Wind einzelne Sandkörner fegte. Zum Meer. Von der Wonne dieses Augenblicks angenehm beseelt, spazierte er durch den sonnengewärmten Sand zum azurblauen Wasser und fühlte, wie leichte Wellen seine Füße umschmeichelten. Sein Blick in die Ferne gerichtet, wanderten seine Gedanken über das Wasser, zum Horizont, darüber hinaus.
Winzige Fische flitzten vorbei. Er schluckte Wasser, konnte nicht atmen. Ein Arm legte sich um seinen Hals, jemand nahm ihn in den Schwitzkasten und drückte ihn unter Wasser! Verzweifelt suchten seine Hände nach Halt und griffen ins Leere. Hilfe! Sein Schrei blieb stumm, Wasser drang in seine Lungen. Hilfe! – hörte er sich blubbern, verzweifelt schlug er um sich und trat mit den Füßen. Wo ist mein Gegner? – er versuchte, ein Ziel zu finden, ließ seinen Ellbogen nach hinten schnellen. Und traf. Ein dumpfes Platsch! Etwas fiel ins Wasser. Seine Füße fanden Halt, hastig durchbrach er mit dem Kopf die Wasseroberfläche, schnappte nach Luft, hustete. Auf dem Wasser trieb ein regloser Körper, bewusstlos, mit dem Kopf nach unten. Er griff danach, drehte ihn um und erkannte ein Gesicht. Ist es eine Fliege?! Nein! Es war sein Ex-Chef, der sich wieder in seine Gedanken gedrängt hatte.
Den ohnmächtigen Gegner grub er im Sand so tief ein, dass nur dessen Kopf herausschaute, den Blick zum Meer gewandt. Dessen Bewusstsein kehrte zurück und von seiner unvorteilhaften Position beobachtete dieser nun, wie die Flut einsetzte, das Wasser anstieg und - so stellte Winfried sich das vor - nun verzweifelt winselte: »Befrei' mich doch!«, während sein Kopf langsam in den Fluten versank.
Einen Moment verschaffte ihm diese Phantasie Befriedigung. Doch fiel er zurück in seine depressive Stimmung.
In wachem Zustand hielt er es nie lange zu Hause aus. Ständig spielten sich Gewaltphantasien in seinem Kopf ab, von denen er sich ablenken musste. Er sehnte sich nach dem Märchenland, das immer eine beruhigende Wirkung auf ihn hatte. Zeit, mich auf den Weg zu machen. Vielleicht, dachte er, habe ich heute Glück.
Als er bei der Spielothek ankam, hellte sich seine Stimmung auf. Der Platz vor seinem Lieblingsautomaten war noch frei. ›Märchenland‹ flimmerten fröhliche Buchstaben und lockten zum Spiel. Gut gelaunt fütterte er den Automaten mit Münzen und beobachtete die bunten, rotierenden Zylinder des Spielautomaten: Zocken … ich habe meinen Beruf zum Hobby gemacht,