Sie ist wieder da. Michael Sohmen
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Als die Haferkrapfen serviert wurden, atmete ich erleichtert auf. Man musste einfach die Fähigkeit besitzen, seine Gedanken in die passende Richtung zu lenken.
»Worum ging es eigentlich gerade?«, fragte ich, als hätte ich nichts von all dem verstanden.
»Nun …« Jürgen wischte sich plötzlich austretenden Schweiß aus der Stirn. »Da ist kürzlich ein China-Imbiss abgebrannt. Das Frittieröl soll sich zu stark erhitzt haben, daher hatte es angefangen zu brennen. Das war die Diagnose der Feuerwehr.«
»Einige verstoßen ja gegen Hygienebedingungen genauso wie gegen die behördlich verordneten Sicherheitsmaßnahmen.« Ich griff nach einem der Kringel. Der schmeckte gar nicht schlecht – offenbar hatte es in der Zwischenzeit einige Fortschritte bei vegetarischen Rezepten gegeben.
»Hast du mal bei irgendwelchen politischen Aktionen mitgemacht, Angela?« fragte Penelope und zwirbelte in ihrer Mähne an einem Strang Haare. Sie zeigte echtes Interesse für meine politische Erfahrung. Was für eine seltsame Frage für die am längsten amtierende Bundeskanzlerin Deutschlands! Ich merkte gerade, wie das Philosophieren über die Gravitation mich etwas aus dem Konzept gebracht hatte. Wie dem auch sei. Noch nie hatte es mir geschadet, wenn ich ein wenig mit Bescheidenheit glänzte.
»Ja! Ich habe an mancher politischen Entscheidung mitgewirkt.« Das war sogar ziemlich ehrlich, denn ich konnte leider nur Gesetze vorschlagen. Letztendlich musste das Parlament jedes Mal darüber entscheiden. Es hatte sich damals bewährt, die wichtigen Abstimmungen auf Freitagabend zu legen. Die meisten Parlamentsmitglieder waren zu der Zeit schon ins Wochenende getürmt. Nicht so jedoch die treuesten meiner Parteifreunde. Auf deren Stimme konnte ich immer zählen.
»Und hast du immer richtig abgestimmt? Hast du dich für den Schutz der Tiere eingesetzt?«
Jetzt bereute ich meine letzten Worte und fühlte mich in die Ecke gedrängt. Hätte ich doch einfach behauptet, ich hätte von Politik nicht die leiseste Ahnung und hätte zeit meines Lebens ausschließlich als Hartz4-Empfängerin gelebt, dabei den ganzen Tag Talksendungen im Fernsehen verfolgt, in denen sich die Frauen gegenseitig anschrien und die eine mit dem Mann der anderen geflirtet haben soll. Oder solche Talkshows, in denen Nazis konfrontiert wurden mit linksradikalen Aktivisten, oder ein Arbeitsloser seinem ehemaligen Arbeitgeber vorwarf, er hätte ihn deswegen aus der Firma gemobbt, weil er auf seine Frau scharf gewesen wäre, während dieser entgegenwarf, dass er zur Kündigung gezwungen gewesen wäre, da sein Angestellter in seinem ständig betrunkenen Zustand irgendwann mit dem Gabelstapler einen Kollegen zu Tode gefahren hätte. Als verantwortungsvoller Arbeitgeber hätte er dafür haften müssen, und bevor er deswegen im Knast gelandet wäre, hätte er die Reißleine ziehen und ihn aus dem Betrieb werfen müssen.
Ich hätte den ganzen Tag diesen Unsinn verfolgen können, aber das entsprach nicht meinem Charakter. Immer fühlte ich mich verpflichtet, etwas für andere zu tun, mich für mein Land einzusetzen zu müssen. Meine langjährige Zeit als Bundeskanzlerin wollte ich in dieser Runde jedoch nicht thematisieren. Ich warf einen ratlosen Blick zu Jürgen. Doch der zuckte mit den Schultern.
»Ich habe mein Bestes versucht«, wich ich Kassandras Frage aus, die mich aus weiten Augen anstarrte, als überlegte sie, mir um den Hals zu fallen oder ob sie diesen mit einem Messer durchtrennen sollte. »Ich habe aber nicht wirklich viel bewirken können.« Ich durchforstete mein Gedächtnis nach etwas, was ihr gefallen, zumindest auf ihr Verständnis treffen würde. Wenn ich dieses TTIP-Abkommen nennen würde, dann würde sie mir hier und jetzt den Kopf abreißen, wenn ich es befürwortete. Damals wurde das Thema in alternativen Kreisen derart aufgebauscht, dass Tierschützer bereit waren, zu töten. Zudem weiß ich nicht, wie sich die Flüchtlingspolitik in den vergangenen Jahren entwickelt hatte. Bei dem Thema sollte man äußerst vorsichtig sein, denn es hatte sowohl das Land, als auch die Unionsparteien gespalten und sogar die Europäische Union. Wie wäre es mit der Rettung Griechenlands? Nein. Das Land gehörte jetzt zur Türkei, wie ich schmerzlich erfahren hatte. Vor meiner Zeit als Bundeskanzlerin, in meinem Amt als Umweltministerin hatte ich das Dosenpfand eingeführt. Gehässige Leute hatten mir häufig auf die Schulter geklopft und gesagt, es wäre meine größte politische Leistung gewesen, viel besser als die Riesterrente. Denn während kaum ein Rentner von dem Machwerk der Schröder-Regierung profitierte, außer manch ein dubioser Versicherungskonzern, hätten die Rentner durch Sammeln von Einwegpfand ihre karge Rente deutlich aufbessern können. Sie hätten damit ein halbwegs würdevolles Leben führen können, ohne sich von Pizza Tonno, Pizzaresten aus der Mülltonne, ernähren zu müssen. »Ich hatte immer mein Bestes versucht«, wiederholte ich, »und werde nicht aufgeben.« Da fiel mir etwas Wichtiges ein. Es war ein Thema, das - musste ich zugeben - von den Grünen geklaut war. »Für den Atomausstieg habe ich mich eingesetzt.«
»Das ist doch die umweltfreundlichste Technologie.« Odin lächelte. »Dagegen verstehe ich gar nicht, warum diese alten Braunkohlekraftwerke noch laufen müssen, die Unmengen von krebserregenden Abgasen in die Luft blasen.«
»Bei der Atomenergie besteht eben ein gewisses Restrisiko …«, warf ich ein und fragte mich, warum hatte sich alles in die vollkommen gegensätzliche Richtung entwickelt und völlig anders, als es von der Mehrheit damals gewünscht wurde?
»In den letzten dreißig Jahren so gut wie nichts passiert.« Odin schwelgte geradezu in seiner geliebten Atomenergie. »Es werden keine Treibhausgase produziert. Und Uran gibt es überall, in fast in unbegrenzter Menge. Bis auf Braunkohle sind alle fossilen Rohstoffe hingegen fast aufgebraucht.«
So musste ich mir eingestehen, dass meine Politik des endgültigen Atomausstiegs nicht den durchschlagenden Erfolg gebracht hatte. Doch ich musste zugeben: ganz überzeugt war ich niemals davon. Nur diese schrottreifen Kraftwerke in der Ukraine und die gigantischen Energiefabriken unserer französischen Freunde, die waren tatsächlich gefährlich und hätten bei einem ernsthaften GAU dazu geführt, dass der gesamte europäische Kontinent unbewohnbar geworden wäre. Deswegen mussten wir vorangehen, auch wenn wir diese Technik wirklich beherrschten. Wir mussten ein Zeichen setzen, beim Ausstieg aus der Kernenergie vorauseilen und hoffen, dass unsere Nachbarstaaten folgten. Wenn es nur um unsere deutschen Kraftwerke gegangen wäre: ich hätte mich dagegen gewehrt, dass diese abgeschaltet wurden. Hoch angereichertes Uran war eben kein Spielzeug. Nichts für Kleinkinder, genauso wenig für unsere französischen Nachbarn geeignet, die Stäbe aus angereichertem Uran und Kugeln aus waffenfähigem Plutonium so leichtsinnig einsetzten wie ihre Bowle-Kugeln, die sie so weit wie möglich zusammenbringen mussten. Die kritische Masse bei dem Spiel wurde jedoch auch bei einer Gruppe übergewichtiger Spieler nicht erreicht.
»Was ist mit Solarenergie und Kernfusion?«
»Ich hatte mich intensiv mit dem Thema Alternative Energien beschäftigt.« Odin wirkte, als wäre er stolz, mitreden zu können. »Es gab ein Forschungsprojekt zur Kernfusion. Das wurde jedoch aufgegeben. Als nicht realisierbare Idee von Träumern wurde es vor einigen Jahren endgültig abgeschossen. Um die Energie der Sonne zu nutzen, wurden viele Versuche unternommen, doch für Photovoltaik beispielsweise fehlten ausreichend Rohstoffe, um die benötigten gewaltigen Mengen an Elektrizität zu erzeugen. Wenigstens funktioniert die thermische Nutzung. Unser Schwimmbad wird auf diese Art beheizt.«
Immerhin etwas. Doch sehr wenig. Ob es der Menschheit mittlerweile gelungen war, zum Mars zu fliegen, ob dort Kolonien errichtet wurden und man auf dem roten Planeten reichlich vorhandene Rohstoffe nutzen konnte, um ferne Planeten zu erkunden?