Sie ist wieder da. Michael Sohmen
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Realitätsschock
Als die ersten Sonnenstrahlen in mein Zimmer drangen, dachte ich erst darüber nach, ob ich all das geträumt hätte. War dies ein entsetzlicher Albtraum? Doch befand ich mich in einem weißgetünchten Raum, der eindeutig nach einem Krankenzimmer aussah und auch den entsprechenden Geruch nach Lösungsmitteln besaß. Ich drehte mich zur Seite, dort lag immer noch der Berg an Aktenordnern, den ich am Vorabend durchforstet hatte. Ein kurzes Morgengebet mit der Bitte an Gott, dass dies nur ein Traum gewesen sein möge, blieb folgenlos. Es war nicht mein Stil, ihm die Schuld dafür zu geben, wenn die Dinge nicht so liefen, wie ich es gern hätte. Daher ließ ich mich nun auch nicht dazu verleiten, ihm Vorwürfe zu machen, dass so vieles einen ganz anderen Weg genommen hatte, als ich es mir gewünscht hatte. Im Stillen wandte ich meine Gedanken zu ihm. Bist du da? Und was ich schon immer fragen wollte: bist du ein Mann oder eine Frau? Wie immer bekam ich keine Antwort. Gott war wohl wie ein UNO-Beobachter, der zuschaute, aber niemals eingriff. Wir Menschen waren also weiter auf uns gestellt und daher musste ich selbst herausfinden, wie ich aus dieser Situation das Beste machen könnte.
»Guten Morgen!« Der Oberarzt stand ohne Vorwarnung im Zimmer, doch dies war hier wohl Sitte. Er blickte kurz auf den Stapel von Aktenordnern. »Ich sehe, Sie haben sich in die Akten vertieft. Haben Sie erfahren, was Sie wissen wollten?«
Ein Nein wäre jetzt unhöflich gewesen. Der Mann hatte getan, was er tun konnte, auch wenn es zu nichts geführt hatte. »Nicht alles. Trotzdem Danke für Ihre Bemühungen. Ich habe alle Akten durchgesehen und mir einen Eindruck verschaffen können.«
»In Ordnung. Ich werde die Ordner wieder mitnehmen.« Etwas enttäuscht ging er auf den Stapel zu, wuchtete ihn hoch und blieb in der Tür kurz stehen. »Wenn Sie Ihr Frühstück nicht bevorzugt im Zimmer einzunehmen wünschen, empfehle ich Ihnen, sich zum Speisesaal im Erdgeschoss zu begeben. Es ist für Ihre Genesung sicher von Vorteil, wenn Sie möglichst bald wieder unter die Leute kommen.«
Als er wie ein Lastesel mit dem Aktenberg seines Weges gegangen war, zögerte ich keine Sekunde und machte mich bereit, um mich unter das Volk zu begeben. Abgesehen davon, dass ich mich vollkommen gesund fühlte, hatte er recht damit, dass die Gesellschaft von anderen genau das Richtige für mich war. Über einige Gespräche mit den Bürgern dort in der Gemeinschaft könnte ich mir mit etwas Glück die für meine Planung wichtigen Informationen beschaffen.
Ich war erkennbar früh dran, denn im Saal saß nur ein einzelner Patient. Am Buffet nahm ich mir einen Teller und legte zwei Brotscheiben darauf, Butter, Marmelade und füllte eine Tasse mit heißem Tee. Vorsichtig balancierte ich damit in Richtung eines einsamen Mannes. Wie beiläufig fragte ich, ob es ihn stören würde, wenn ich mich an seinen Tisch dazusetzen würde. Er nickte, dann schüttelte er den Kopf. Meine Frage war ungeschickt formuliert, sein Lächeln interpretierte ich jedoch als Zustimmung und nahm Platz. Mein Plan war, mit etwas Smalltalk zu beginnen und ein wenig freundliches Interesse für seine persönliche Situation zu demonstrieren. Wenn das erste Eis gebrochen wäre, würde ich vorsichtig das eine oder andere Thema anschneiden, das mich selbst interessierte.
»Sind Sie auch schon länger in dieser Einrichtung?«, fragte ich und nippte an dem heißen Tee.
»Ich-ich-iiiiiiich b-b-b-b-bibibibibbibibinbibi …«, begann er und brach ab. Oje! Er stotterte. Das würde eine große Herausforderung werden, mich seiner als Informationsquelle zu bedienen. Die Saaltür flog auf und eine Gruppe wild plaudernder Patientinnen trat ein. Nachdem sie sich am Buffet bedient hatten, besetzten sie einen Tisch sehr weit abseits von uns. Was für ein Pech! Doch meine Höflichkeit verbat es mir, den Platz zu wechseln und diesen Stotterer alleine zu lassen.
»Ich selbst bin schon lange hier«, versuchte ich ein neues Gespräch, »und was führt Sie in diese Einrichtung?«
»We-we-we-we-weeeege-gen - d-d-d-d-de-de-de-dem …«, begann er hilflos und gab erneut auf. Es war zwecklos. Auf diese Art war es kaum möglich, Antworten zu den Fragen zu erhalten, die mir auf den Nägeln brannten. Der Saal füllte sich weiter, doch an diesem Tisch blieb ich mit dem Stotterer allein.
»Wenig Auswahl haben die hier. Ein Fruchtsalat oder Müsli würde uns beiden gut bekommen, nicht?« Schweigend wollte ich ihm nicht gegenüber sitzen, schließlich konnte er nichts für seine Schwäche.
»Mü-mü-mü-mü-müüüüüüüüs-mümümümü …« Er brach ab. Offensichtlich wollte er mit dem Wort Müsli einen Satz beginnen, mit dem er sogleich desaströs gescheitert war.
Wie schade. Vielleicht saß in ihm der Geist eines überragenden Genies, das durch das Dilemma geplagt wurde, dass seine Gedanken stetig vorauseilten und überholten, was er in Worten hätte fassen können. Wenn ihm das Talent eines Redners zu eigen wäre, hätte er vielleicht mächtige Reden schwingen können. Wie Gabriel – nein, mein Gegenüber würde seine Vorträge wohl auch mit Inhalt füllen können. Ich stellte mir vor, wie er ohne solch ein Handicap großartige Ansprachen hätte halten können, die unauslöschlich im Gedächtnis der Menschheit geblieben wären wie die Reden eines Martin Luther King, John F. Kennedy oder die des Cicero, die selbst nach zweitausend Jahren unsere Schüler im Lateinunterricht beschäftigt hatten. Doch seine Natur hinderte ihn durch diese schwerwiegende sprachliche Hürde daran, seine Gedanken in Worte zu fassen.
»T-t-t-t-t-t-te-te-teeeeeeee?« Er zeigte auf meine Tasse. Ich nickte. Er griff nach meinem Tongefäß und ich sah ihm dabei zu, wie er zum Buffet ging und sie füllte. Langsam begannen wir uns zu verstehen. Als er zurückkehrte, kaute ich schon auf dem letzten Stück meines Brotes, nahm dankbar die Tasse entgegen und spülte die Reste der trockenen Weizenkost hinunter. Wenn nur alle Menschen, die nicht von solchen Schwierigkeiten betroffen waren und denen das Leben keine solchen Hindernisse auferlegt hatte, sich bemühen würden wie dieser Mann! Wie sehr würde es unsere Welt bereichern, wenn alle Menschen solcherlei Leistung für ihre Mitmenschen bringen würden? Wir befänden uns in einer Welt, in der nicht jeder nur an sich selbst dachte. Statt dass man nach unermesslicher Macht gierte, sich fragte, was könnte ein jeder für seinen Nächsten tun. Man musste sich einfach bewusst werden, wie viel man zu leisten imstande wäre, wenn man nicht im Größenwahn versuchen würde, mit dem Kopf durch die Decke zu stoßen, danach durch die nächste und viele weitere, bis man im obersten Stockwerk angekommen war und das Gehirn auf dem Weg derart beschädigt hatte, dass man es nur noch dazu gebrauchen konnte, sich endgültig dem Wahnsinn hinzugeben.
Dem Mann fehlte nur ein Coach, der ihm zur Seite gestellt wurde, um seine sprachlichen Fähigkeiten zu entwickeln. In dem Bereich mangelte es mir an Kompetenz, das musste ich mir eingestehen. Da ich nun mit meinem Frühstück fertig war, erhob ich mich und zwinkerte dem Mann freundlich zu, um ihn in seinem Selbstbewusstsein ein wenig zu bestätigen und deponierte mein Tablett auf der Geschirrablage. Vielleicht gab ihm diese kleine Ermutigung so viel Kraft, dass er eine Konfrontationstherapie wagte und seine Redehemmnisse überwinden würde. Möglicherweise sah ich ihn bald in irgendwelchen Talkshows, in denen er in brillanten Kontroversen mit seinen außergewöhnlichen rhetorischen Fähigkeiten glänzte. Falls es so etwas wie Talkshows heutzutage noch gab.
Mittlerweile war ich bereit, meine neue Situation zu akzeptieren und mich den neuen Umständen anzupassen. Das Werbeblatt für das Parteitreffen dieser Tierschutzpartei nicht spontan zu entsorgen, war die richtige Entscheidung. Dies wurde mir bewusst, nachdem sich herausgestellt hatte, dass es wesentlich schwieriger war, an Informationen zu gelangen, als ich mir das vorgestellt hatte. Bevor ich mich jedoch wieder in die Untiefen der Politik wagte, nahm ich mir vor, diese langersehnte Freizeit, die sich mir so unverhofft darbot, endlich zu nutzen. Am Empfang stöberte ich in den herumliegenden Flyern mit Ausflugstipps nach etwas, das ich auch ganz alleine unternehmen könnte. Ohne Führer. Und vor allem ohne Reporter oder Kameras. Eine Wanderung zur Zugspitze versprach mit malerischen Fotos eine idyllische Tour. Ich werde sicher nicht die ganzen dreitausend Meter hochklettern.