Sie ist wieder da. Michael Sohmen

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Sie ist wieder da - Michael Sohmen

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Da ich nichts anderes vorhatte und weder Sitzungen, noch Termine auf dem Plan standen, konnte ich genauso gut diesen Tierschützern einen Besuch abstatten. Nach Einschätzung meiner momentanen Lage war es die derzeit einzige Möglichkeit, einen Weg zurück in die Politik zu finden. Sie vertraten ebenso christliche Werte und somit gab es kein klares Ausschlusskriterium, das mich dieser bei Wahlergebnissen unter »ferner liefen« genannten Partei entfremden würde.

      Die Sonne senkte sich schon zum Horizont, als ich meinen Sitzplatz unter der Ulme verließ und in das Klinikgebäude zurückkehrte. Es blieb mir nun einmal nichts anderes übrig, als dies als vorübergehenden Wohnsitz akzeptieren. Aufgrund der aktuellen Lage war es weder möglich im Kanzleramt zu residieren noch meine Wohnung in Berlin zu beziehen.

      »Wo waren Sie die ganze Zeit? Wir haben uns schon Sorgen gemacht!« Der Oberarzt stoppte mich, als ich gerade über den Flur zu meinem Zimmer gehen wollte und sah mich mit vorwurfsvoller Miene an.

      »Nun. Ich hatte angenommen, ich hätte das Recht dazu, mich frei bewegen zu dürfen, um mir ein Bild der Lage zu verschaffen. Gibt es damit ein Problem?«

      »Sie sind noch nicht bereit dafür!« Mit verschränkten Armen baute sich der Mann vor mir auf.

      »Bereit für was?«, gab ich zurück und starrte ihn ebenso vorwurfsvoll an. Er löste seine Arme und ließ seine rechte Hand in die Kitteltasche gleiten. Wieder hörte ich das nervöse Klicken. Auf meine Frage war er unvorbereitet und ich sah, wie es unter seiner Schädeldecke intensiv arbeitete. Ich beschloss, ihn nach einem Moment des Schweigens aus dieser Situation zu erlösen. »Vielleicht Folgendes: zu erfahren, dass ich nach Jahrzehnten der Bewusstlosigkeit im Jahr 2050 aufgewacht bin?«

      »Wer hat Ihnen das gesagt?« Schlagartig wurde er blass. »Wir hatten ein genaues Vorgehen ausgearbeitet, wie wir Ihnen die Situation langsam und behutsam, in winzigen Schritten beibringen würden. Für den Fall - es gab dabei sehr unterschiedliche Prognosen - dass Sie wieder zu Bewusstsein kämen. Alle Kollegen auf dieser Station wurden glasklar instruiert, dass sie eigenmächtig keinerlei Informationen preisgeben dürften. Wer war es, der sich nicht an diese Anweisung gehalten hat?«

      »Niemand! Sie hatten bei der Planung wohl vergessen, die Kalender in Ihrem Haus zu entfernen.«

      »Oh!« Das war vermutlich die Abkürzung für: die Planung von Jahrzehnten war vergebens aufgrund einer winzigen Dummheit. Aus seinem Gesichtsausdruck war zu schließen, dass in dieses Konzept, das nach meinem Erwachen umgesetzt werden sollte, ähnlich viele Arbeitsstunden geflossen waren wie in den Neubau des Berliner Flughafens. Mit vergleichbarem Erfolg. Einen kurzen Augenblick drängte sich mir die Frage auf, wie weit mittlerweile dieses Projekt fortgeschritten sein möge – als mir sogleich bewusst wurde, dass dies letztendlich egal wäre. In diesem isolierten Land, in das man weder ein- noch ausreisen konnte, brauchte man keinen Flughafen mehr. »Wie weit ist ihr Wissensstand?«, unterbrach der Oberarzt meinen Gedankengang.

      »Mehr oder weniger habe ich mir schon ausreichend Informationen beschaffen können, um mir ein Bild von der aktuellen politischen Lage zu bilden. Von der veränderten Situation Europas bis zur Aufsplitterung der Bundesrepublik in drei Staaten. Draußen vor dem Gebäude gibt es einen Kiosk, es ist immer noch möglich, sich einige Informationen über gedruckte Medien zu beschaffen, auch wenn die Auswahl - nehmen sie mir diese Ausdrucksweise nicht übel - sehr bescheiden ist!«

      »Sie haben recht. Wir konnten Sie nicht gegen ihren Willen einsperren. Daher wurde dieses Konzept der vorsichtigen Konfrontation mit der Gegenwart über einige Jahre erarbeitet. Schade. Den Aufwand hätten wir uns sparen können. Wenigstens ist unsere Befürchtung, dass sie durch den Realitätsschock ihr Bewusstsein erneut verlieren könnten, nicht eingetreten.« Er stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Das Klicken in seiner Tasche hatte aufgehört. Ich interpretierte es als Zeichen, dass er von dem Zwang befreit worden war, mir etwas vorzumachen und irgendwelche Unwahrheiten oder Halblügen auftischen zu müssen. Nun konnte endlich Klartext gesprochen werden. Damit fühlte er sich sichtbar wohler, das las ich aus seiner Körpersprache. »Sie machen geistig und körperlich auf mich einen äußerst positiven Eindruck. Keiner hätte nach den vielen Jahren vermutet, dass Sie dies weitgehend unbeschadet überstehen. Bevor ich mich um die nächsten Patienten kümmern muss, kann ich noch etwas für Sie tun? Was das Abendessen angeht, dies wurde in Ihrer Abwesenheit neben ihr Krankenbett gestellt.« Nun war die Gelegenheit, endlich zu erfahren, wie die Bundestagswahl damals ausgegangen war.

      »Am meisten interessiert mich, was sich in unserem Land abgespielt hat, nachdem ich das Bewusstsein verloren habe. Die Wahl, wie ist sie ausgegangen? Wer bildete die neue Regierung?«

      »Da bin ich überfragt.« Er zuckte ratlos mit den Schultern. »Das war vor meiner Zeit. Aus Ihren Akten, die ich von meinen Vorgängern übernommen habe, weiß ich nur, dass Sie bei einer Wahlveranstaltung ohnmächtig geworden sind und alle Versuche, sie wieder zu Bewusstsein zu bringen, vergebens waren. Aber ich kann Ihnen die Krankenakte gerne bringen. Vielleicht erfahren Sie darin mehr.«

      »Es wäre mir sehr wichtig. Ich wäre Ihnen zu Dank verpflichtet!« Er verabschiedete sich nickend, ich kehrte in mein Zimmer zurück und sah gleich das Tablett auf dem Beistelltisch. Mächtiger Kohldampf ließ meinen Magen pochen, als hätte dieses Organ ein kardiologisches Problem. Ich entfernte den Plastikdeckel. Der optische Eindruck des Essens war leider nicht gerade ansprechend. Es sah so aus, als hätte ein Hund auf dem Teller sein Geschäft verrichtet. Ich griff nach der Gabel und kostete ein wenig. Es schmeckte so, wie der optische Eindruck erwarten ließ. Manche Dinge ändern sich wohl nie, dachte ich. Wäre ich nicht von diesem Bärenhunger genötigt – ich hatte das Zeug retour gehen lassen.

      Eine Krankenschwester platzte herein und schleppte einen Stapel mit Ordnern herein.

      »Mit freundlichen Grüßen vom Oberarzt«, stöhnte sie, legte alles auf den Beistelltisch und eilte wieder aus dem Zimmer.

      Ich war unglaublich gespannt, nun zu erfahren, wie die Wahl ausgegangen sein würde, wegen der ich in diese langanhaltende Bewusstlosigkeit gefallen war. Der erste medizinische Bericht begann mit einer mehrseitigen Beschreibung des Ablaufs der Einlieferung einer Bundeskanzlerin, also meiner Person, in einem komatösen Zustand. Es folgten Versuche mit Adrenalin und vielen anderen Mitteln, deren lateinische Namen nichtssagend waren. In dem Ordner waren Röntgenspektroskopien von meinem Gehirn abgeheftet, die ausschließlich mit kein Befund kommentiert waren, ergo wurde nichts Schwerwiegendes festgestellt. In solchen Fällen hatte man auch keine bewährte Therapie in petto, die man hätte einsetzen können. Das Werk hatte ich schnell durchgeblättert, ich griff nach dem zweiten Ordner. Man hatte nun einige Experimente mit neuen Medikamenten angestellt, was nicht den gewünschten Erfolg gebracht hatte. Mir fiel das Lesen der Berichte extrem schwer. Zu viel lateinische Wörter. Der Medizin fehlte jemand wie Martin Luther, der das Ganze in eine verständliche Sprache hätte übersetzen können. Sogar die katholische Kirche war in diesem Detail fortschrittlicher als dieser viel gelobte Medizinsektor. Ich unternahm einen weiteren Versuch und blätterte in dem nächsten Werk, einem dick gefüllten Wälzer. Mit meinem Fall hatten sich offensichtlich unzählige Mediziner beschäftigt, es wurden mehrere Dissertationen darüber verfasst. Ich überflog Promotionsschriften, doch für mich war es zu viel an unverständlichem Kauderwelsch, mit dem ich kaum etwas anfangen konnte. Ordner für Ordner sah ich durch, über viele Jahre testete man neue Verfahren oder neu zugelassene Medikamente wie … Kokain, kristallines Methylamphetamin, Heroin …? Ich sah wohl nicht recht! Hoffentlich würden diese Menschenversuche an meinem Körper keine ernsthaften Folgen nach sich ziehen. Ich wollte mein Leben und meine Karriere als Bundeskanzlerin nicht am berüchtigten Bahnhof Zoo beenden und als Junkie an einer Überdosis sterben. All dies medizinische Bemühen war umsonst, enttäuscht warf ich den letzten Hefter auf den Stapel neben meinem Bett. Mich hatte vor allem interessiert, wie das Ergebnis der Bundestagswahl damals ausgegangen war. Sie hätten dies einfach in einem der Ordner abheften können. Stattdessen gab es nur diese Ansammlung unzähliger Maßnahmen, die allesamt gescheitert

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