Pitaval des Kaiserreichs, 1. Band. Hugo Friedländer
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Oberstaatsanwalt Hamm: Meine Herren Geschworenen! Der gegenwärtige Prozeß hat schon lange vor dieser Verhandlung die große Öffentlichkeit beschäftigt. Er hat zum Gegenstande einer häßlichen Hetze sozialer und politischer Parteien dienen müssen. Die behördlichen Organe, die von Amts wegen zur Führung der Untersuchung verpflichtet waren, wurden in der gemeinsten Weise angegriffen. Parteimänner und Parteiblätter haben sich nicht entblödet dem richterlichen Urteile vorzugreifen und den Versuch zu machen, durch allerlei Hetzartikel das sachliche Urteil zu trüben. Allein die große Aufmerksamkeit, mit der die Herren Geschworenen der Verhandlung gefolgt sind, gibt mir Gewähr, daß Sie sich allen Stürmen von außen unzugänglich erweisen und nur auf Grund des Ergebnisses der Verhandlung nach bester eigener Überzeugung Ihren Wahrspruch abgeben werden.
Der Oberstaatsanwalt ruft alsdann den Geschworenen in ausführlicher Weise den Gang der Verhandlung ins Gedächtnis und fuhr darauf fort: Die Verteidigung hat es für nötig gehalten, durch Ladung eines Sachverständigen zu beweisen, daß es einen Ritualmord nicht gäbe. Ich hielt dies Sachverständigengutachten für überflüssig. Es ist ja möglich, daß es Juden gibt, die Christenblut zu Heilzwecken oder rituellen Zwecken für notwendig halten. Das könnte ja möglich sein, ohne daß es im Talmud steht. Aber das kümmert uns nichts, hier liegt jedenfalls kein Ritualmord vor. Das ist festgestellt durch die medizinischen Sachverständigen, die bekundet haben, daß der Mord am Fundort geschehen ist, daß soviel Blut bei der Leiche gefunden wurde, wie diese nur verlieren konnte, daß der Halsschnitt kein Schächtschnitt gewesen und auch der Mord nicht mit einem Schächtmesser ausgeführt ist. Wie die medizinischen Sachverständigen bekundet haben, ist sofort aufs eingehendste untersucht worden, ob ein Lustmord vorliegt, hierfür haben sich aber auch keine Anhaltspunkte ergeben.
Ich komme nun zu dem Hauptpunkt, der wesentlich zur Erhebung der Anklage Veranlassung gegeben hat, es ist das die Aussage des Zeugen Mölders. Ich bemerke, daß die Staatsanwaltschaft auf dem Standpunkte steht, daß die Anklage auch dann aufrecht zu erhalten ist, wenn das Motiv des Mordes nicht nachgewiesen ist und ich muß bekennen, die Aussage des Zeugen Mölders ist auch heute bei der Ortsbesichtigung nicht erschüttert worden. Die Aussage des Zeugen Mölders steht aber auch nicht allein, zwei Knaben unterstützen sie. Da ist zunächst der Knabe Stephan Kernder. Dieser soll zu seinen Eltern gesagt haben: er habe gesehen, wie Frau Buschhoff den kleinen Hegmann in das Haus gezogen hat. Allein der Knabe Kernder hat einmal dies seinen Eltern erzählt eine volle Woche nach dem Morde, und andererseits hat sich der Knabe trotz aller Bemühungen nicht vernehmen lassen. Endlich ist zu erwägen, daß der Knabe, als ihn die Schwester des kleinen Hegmann fragte, ob er nicht wisse, wo ihr Brüderchen sei, gesagt hat: »Der ist nach den Kirschen gegangen.« Wir können auch nicht wissen, was der Knabe seinen Eltern gesagt hat und was sie selbst hinzugesetzt haben. Da wir auch den Knaben nicht selbst gehört haben, so können wir dessen Aussage kein Gewicht beilegen. Ich komme zu dem Knaben Gerhard Heister, der uns auch heute gezeigt, in welcher Stellung er auf dem Prellstein gesessen hat. Aber auch dieser Knabe hat erst zwei Wochen nach dem Morde seine Wahrnehmungen mitgeteilt, nachdem die Mölderssche Aussage längst bekannt war. Es wird deshalb auf die Aussage des Knaben Heister auch kein Gewicht zu legen sein. Aber trotzdem halte ich den Mölders für vollständig glaubwürdig. Es ist richtig, Mölders trinkt gerne Schnaps, und an dem Tage, als er das erstemal zu dem Herrn Amtsrichter ging, hatte er vielleicht schon verschiedene Schnäpse getrunken, aber an dem Vormittage, an dem er seine Wahrnehmungen machte, hatte er nur einen Schnaps getrunken. Ich muß nun bekennen, wenn der Angeklagte nicht in vollem Umfange und in überzeugendster Weise sein Alibi nachgewiesen hätte, würde ich keinen Anstand nehmen, auf Grund der Aussage des Mölders das Schuldig gegen den Angeklagten zu beantragen. Sobald festgestellt ist: der Knabe ist zuletzt in Buschhoffs Haus gewesen, dann muß Buschhoff über den Verbleib Rechenschaft geben. Ich wiederhole, dieses Moment war die Hauptveranlassung, daß gegen Buschhoff, Frau und Tochter Anklage erhoben wurde.
Die Strafkammer hat beschlossen, das Verfahren gegen Frau und Tochter einzustellen, die Staatsanwaltschaft hat deshalb Beschwerde geführt, das Oberlandesgericht diese Beschwerde aber zurückgewiesen. So ist die Anklage gegen Buschhoff allein übriggeblieben. Es steht nun fest, daß der ermordete Knabe nach 10 Uhr vormittags nicht mehr gesehen und daß die Tat in der Scheune begangen worden ist. Es kann deshalb keinem Zweifel unterliegen, daß der Knabe gleich nach 10 Uhr vormittags in der Küppersschen Fruchtscheune ermordet worden ist. Buschhoff hat aber in glaubwürdigster Weise nachgewiesen, wo er zu dieser Zeit gewesen ist, er kann mithin die Tat unmöglich begangen haben. Ich habe bereits gesagt: der Mangel eines Motivs ist es nicht, der die Staatsanwaltschaft veranlassen wird, das Nichtschuldig zu beantragen. Die Staatsanwaltschaft kann die Auffassung des Kriminalkommissars Wolff nicht teilen, wonach Buschhoff den Mord begangen haben könnte, weil ihm der Knabe einen Grabstein beschädigt habe. Dieser winzige Schaden kann den Angeklagten nicht veranlaßt haben, die Mordtat zu begehen.
Auch der Umstand, daß der Angeklagte zu dem Knaben einmal gesagt haben soll: »Du kommst in den Turm«, kann keinerlei Anhaltspunkte für ein Motiv gewähren, denn der Zeuge Wesendrup hat uns bekundet: Buschhoff habe diese Drohung nur ausgesprochen, damit ihm die Knaben die Grabsteine nicht beschädigen sollen. Da eben keinerlei Motiv vorhanden war, so wurde behauptet: es liege ein Ritualmord vor. Bei einem Ritualmord bedarf es keines weiteren Motivs, der Mörder kann ein ganz guter, braver Mann sein – ein Zeugnis, das dem Buschhoff von den meisten Zeugen ausgestellt wurde – er hat aber trotzdem den Mord begangen, weil die Juden entweder zu Heilzwecken oder zu rituellen Dingen Christenblut gebrauchen. Ich habe bereits ausgeführt, daß hierfür nicht die geringsten Anhaltspunkte vorhanden sind. Dieser Glaube wäre auch niemals entstanden, wenn Dr. Steiner nicht begutachtet hätte, es sei in der Scheune kein Blut gefunden worden, während eine ganze Fülle von Blut gefunden wurde. Der Versuch, ein Kind in das Buschhoffsche Haus zu ziehen, gelang allerdings heute. Allein es darf nicht außer acht gelassen werden, daß die Wirklichkeit und der Versuch, den ein Schwurgericht, das etwas Bestimmtes sehen will, anstellt, zweierlei Dinge sind. Jedenfalls hat sich Mölders geirrt. Es ist einmal möglich, das Kind ist in den Portenweg gezogen worden, oder auch, daß das Ullenboomsche Kind, das Mölders ebensowenig wie den kleinen Hegmann kannte, in das Buschhoffsche Haus gezogen wurde. Ich komme nun nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme zu der Überzeugung, daß dem Buschhoff die Tat nicht nur nicht nachgewiesen ist, sondern daß die Verhandlung seine volle Unschuld ergeben hat. Nun wird man sagen: »Es ist doch ein Mord geschehen, wer ist der Täter?« In dieser Beziehung hat leider die Verhandlung keinerlei Anhaltspunkte ergeben, aber sie hatte doch wenigstens das Ergebnis, daß die Unschuld des Buschhoff nachgewiesen wurde. Ich beantrage daher aus voller Überzeugung das Nichtschuldig und gebe mich der Hoffnung hin, daß die Verhandlung beigetragen haben wird zur Befestigung des Glaubens an die Unparteilichkeit und Gerechtigkeit der preußischen Richter.
Erster Staatsanwalt Baumgard bemerkte nach eingehender Würdigung der Beweisaufnahme: Ich komme nach alledem zu dem Schluß, daß Buschhoff auch nicht der Mitwisserschaft des Mordes verdächtig ist. Wäre Buschhoff der Mörder oder auch nur Mitwisser des Mordes, dann wäre sein Auftreten am Tage des Mordes jedenfalls nicht ein solch unbefangenes gewesen, man müßte denn annehmen, daß er ein ganz raffinierter Mörder ist. Sie haben ja den Mann vor sich, ich überlasse dies daher Ihrem Urteile. Bedauerlich ist es ja, daß durch diese Verhandlung die Mordtat keine Aufklärung erfahren hat. Aufgeklärt ist aber die Unschuld des Buschhoff. Dieser ist weder der Mörder, noch der Mordgehilfe noch der Mitwisser. Und ich bemerke Ihnen ausdrücklich, meine Herren Geschworenen, daß wir es hier nicht mit einem Non liquet zu tun haben. Daß das Verbrechen nicht aufgeklärt ist, bedaure ich ganz außerordentlich, und zwar um so mehr, da ich mir gleich nach Entdeckung der Tat alle Mühe gab, Klarheit in die Sache zu bringen, den Täter zu ermitteln. Ich habe sofort in dem in Xanten erscheinenden »Bote für Stadt und Land« einen Aufruf an die Bevölkerung erlassen, die Tätigkeit der Behörde nicht durch religiöse Erregungen zu stören. Leider hatte diese meine Bitte keinen Erfolg. Ich hoffe, daß, wenn die religiöse Erregung sich wieder gelegt und die Behörde in der Lage ist, klar zu sehen, es doch noch gelingen wird, den wirklich Schuldigen zu ermitteln.